USA | Wer in Texas lebt, muss bis nach New Mexico, um abtreiben zu können

Die Klinik von Dr. Franz Theard in New Mexico hilft Frauen, denen der Abbruch einer Schwangerschaft in ihrem Staat verwehrt bleibt

Trigger Laws werden die Gesetze genannt, die in diesem Sommer den Schwangerschaftsabbruch in mehreren US-Bundesstaaten zur Straftat erklärten. „Trigger“ bedeutet „Abzug“, wie der, den man an einer Schusswaffe findet. Vielerorts wurden diese Gesetze schon vor Jahren verabschiedet, um in Kraft zu treten, sobald die juristisch notwendige Grundlage vorhanden sein würde. „Roe vs. Wade“ hieß das historische Urteil des Obersten Gerichtshofs, das in den USA 49 Jahre lang – zumindest theoretisch – das Recht auf Abtreibung garantierte. Am 25. Juni revidierte der Supreme Court unter seiner neuen konservativen Mehrheit dieses Urteil. Die „Abzüge“ konnten ausgelöst werden.

Keine andere Wahl

Für Frauen aus Texas, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen, ist dies nun zu einem heiklen Zusammenspiel von Entfernung und Zeit geworden. Der Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der USA verbietet einen Abbruch zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft. Ausnahmen gelten nur bei akuter Lebensgefahr für die Mutter, jedoch nicht bei Inzest und Vergewaltigung. Wer sicher abtreiben will, hat deshalb seit Monaten keine andere Wahl, als Texas zu verlassen. Nur wohin? Im Osten und Norden liegen Louisiana beziehungsweise Oklahoma – konservativ regierte Staaten, deren Trigger Laws ebenfalls am 25. Juli bestätigt wurden. So bleibt nur eine Alternative.

Wer weit im Westen von Texas unterwegs ist, gelangt nach El Paso: eine Großstadt an der Grenze zu Mexiko, ein Knotenpunkt für Menschen und Wirtschaft. Tonnen von Waren passieren täglich dieses Gebiet. Von der Interstate 10, dem großen Highway, der entlang der Grenze verläuft, schaut man weit hinein nach Juárez, der mexikanischen Schwesterstadt auf der anderen Seite, gelegen auf halber Strecke zwischen Atlantik und Pazifik, beladen mit Jahrhunderten bewegter Geschichte. Für viele Frauen ist El Paso nur eine Durchgangsstation, bevor sie eine andere, nirgends vermerkte Grenze erreichen. Sie liegt an der Abfahrt nach Santa Teresa, einem Vorort von El Paso, der sich in einem wesentlichen Punkt von den anderen „Suburbs“ unterscheidet: Santa Teresa liegt nicht in Texas, sondern im Nachbarstaat New Mexico. Hat man dort vereinzelte Industriereviere und Wohngegenden passiert, kommt sie in Sicht – die Women’s Reproductive Clinic, ein unscheinbares Gebäude in einer gesichtslosen Häuserfront, mit der Filiale einer Sandwich-Kette gegenüber.

Zeitig am Morgen sind die meisten Parkplätze direkt vor der Klinik belegt, so gut wie jedes der Autos hat ein texanisches Kennzeichen. Auf einem Grünstreifen zwischen Straße und Parkplatz sitzt eine Gruppe von Frauen und betet, um sie herum Schilder, auf denen „Beendet Abtreibungen!“ zu lesen ist. In manchen Fahrzeugen sitzen Männer mit ernsten Gesichtern, im Wartezimmer des Hospitals ist die Stimmung still und angespannt.

Sollte Dr. Franz Theard die kritische Atmosphäre rings um sein Spital beunruhigen, so lässt er sich davon nichts anmerken. Es ist für ihn ein Morgen wie jeder andere. Der 74-Jährige lebt eigentlich auf der anderen Seite der Grenze, in El Paso. „Dort waren die großen Krankenhäuser, deswegen hatte ich da meine Praxis.“ Doch mit den Jahren machte Texas den wenigen Abtreibungsärzten im Staat das Leben immer schwerer. In Theards Behandlungsräumen kam es ständig zu unangemeldeten Inspektionen, kleinste Verstöße gegen äußerst komplexe Regeln wurden mit hohen Bußgeldern geahndet. „Deshalb haben wir 2010 dieses Hospital eröffnet“, erzählt Theard in seinem Büro, in dem die Fahne von New Mexico steht. Für ihn waren Geburten und Schwangerschaftsabbrüche lange Zeit Teil seiner Arbeit als Frauenarzt. „Ich habe in El Paso jede Menge Säuglinge entbunden“, sagt er stolz. Zugleich sei es im konservativen, stark religiösen Texas an der Tagesordnung gewesen, wegen eines Schwangerschaftsabbruchs Repressionen ausgesetzt zu sein. Seine Kinder mussten es ertragen, in ihrer Schule gemobbt zu werden. Abtreibungsgegner belagerten das Haus der Familie. Auch jetzt fühle er sich bedroht, sagt er und weist durch die geschlossenen Jalousien auf die Leute vor dem Spital. „Im Vergleich zu früher ist das nicht so schlimm. Damals mussten wir uns regelrecht verstecken.“ Gut 30 Patientinnen haben an diesem Tag einen Termin. Dr. Theard kann nicht allen helfen, die zur Women’s Reproductive Clinic kommen. Er bietet mit seinem Team mittlerweile nur noch medizinische Abtreibungen an, also für Fälle bis zur neunten Woche einer Schwangerschaft. Wer darüber hinaus ist, muss es in Las Cruces versuchen, knapp zwei Autostunden weiter an der Interstate 10. Gibt es dort keine Termine, kommen noch die Stadt Albuquerque oder gleich Colorado in Frage. „Manche Frauen erscheinen auch zu früh. Sie sind in Panik und kommen, bevor wir ihnen helfen können.“

Santa Teresa ist mindestens acht Stunden Autofahrt von den Ballungszentren im Zentrum von Texas entfernt, wer aus den Regionen am Golf von Mexiko kommt, fährt noch länger. Am Wochenende sei in der Klinik ein besonders starker Andrang, so Theard. Die meisten, die seine Hilfe bräuchten, seien berufstätig. Eine Beratung durch den Arzt und die zwei Tabletten, mit denen die Abtreibung eingeleitet wird, kosten etwa 700 Dollar, dazu kommen noch die Übernachtung in El Paso und die Kosten für Flug oder Autofahrt. Die erste Tablette namens Mifepriston nehmen die Patientinnen unter Theards Aufsicht in der Klinik, die zweite – Misoprostol – am nächsten Tag zu Hause, um dort die Abtreibung selbst einzuleiten. Gesundheitsversicherungen ist es in Texas seit 2017 gesetzlich untersagt, für die Kosten eines Abbruchs aufzukommen. Mit den Hilfsfonds, die Geld sammeln, um armen Frauen beizustehen, will Theard nicht zusammenarbeiten. Das sei „zu viel Papierkram“.

New Mexico ist nicht wesentlich kleiner als Deutschland, hat aber nur knapp zwei Millionen Einwohner. Die extrem dünn besiedelten Flächen im Süden haben eine lange und bizarre Geschichte als Experimentierfeld und Trainingsgelände der Army. 1945 wurde hier die erste Atombombe getestet, bis heute wird auf der White Sands Missile Range mit Drohnen und Bombern geübt. Die Kleinstadt Alamogordo liegt rund 150 Kilometer nördlich von Santa Teresa in der Nähe eines Stützpunktes und im Schatten schroff aufragender Berge.

An einem ungewöhnlich regnerischen Tag sitzen Ashlie Myers und Jeny Buckley in der kleinen Bar einer Supermarktfiliale. Die beiden Frauen leben seit Jahren in Alamogordo und haben wie die meisten hier enge Bindungen zum Militär. Dass man in dieser Stadt konservativer sei als im Rest New Mexicos, habe sie schon immer gewusst, erzählt Buckley. Als sie während der Pandemie begann, sich gegen grassierende Fehlinformationen auf lokalen Facebook-Kanälen zu wenden, schlug ihr blanker Hass entgegen. „Es war schockierend, zu merken, wie extrem die Leute hier eingestellt sind.“ Als Buckley örtliche Republikaner kritisierte, erhielt sie Morddrohungen. Sie habe in ständiger Furcht gelebt und bis zum Sommer kaum das Haus verlassen.

Und das, obwohl der Staat mehrheitlich demokratisch wählt. Gouverneurin Michelle Lujan Grisham verkündete, nachdem das Oberste Gericht das Recht auf Schwangerschaftsabbruch kassiert hatte, man werde zehn Millionen Dollar für Abtreibungskliniken entlang der Grenze bereitstellen. Die Republikaner in Alamogordo teilten umgehend mit, dass sie in ihrer Gegend keine derartige Einrichtung dulden würden. „Die Leute denken alle, New Mexico sei liberal“, lächelt Ashlie Myers, „aber nicht dieser Ort.“ Couy Griffin, ein führender Republikaner des Distrikts, musste jüngst sein Amt aufgeben, nachdem er für den Sturm auf das Kapitol Anfang vergangenen Jahres als Anführer der Gruppe „Cowboys for Trump“ verurteilt worden war.

Bewaffnete Republikaner

Als der Stadtrat von Alamogordo im Sommer eine Reihe von abtreibungsfeindlichen Maßnahmen verkündete, entschloss sich Myers, einen Bürgerentscheid anzumelden, um der gesamten Wählerschaft der Stadt die Möglichkeit zu geben, über diese Beschlüsse abzustimmen. „Wir haben da vorn in der Hitze unterm Zeltdach gestanden und Unterschriften gesammelt.“ Myers nickt in Richtung der Hauptstraße. Die Petition scheiterte, weil die republikanisch geführte Stadtverwaltung fast ein Drittel der Stimmen für ungültig erklärte. Davon wollen sich die beiden Frauen nicht entmutigen lassen. Sie haben sich um Rechtshilfe bemüht, obwohl sie wissen, dass sie in Alamogordo auf radikale, konspirative und gut bewaffnete Republikaner treffen. Ashlie Myers und Jeny Buckley wollen sich dennoch weiter für das Recht auf Abtreibung in New Mexico einsetzen. „Wir müssen ein Zufluchtsort bleiben!“

Johannes Streeck ist freier Autor und bereist vor den Zwischenwahlen im November die USA

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