USA | Hysterie gegen Linke kostet die Einwanderer Sacco und Vanzetti 1927 das Leben

Fast alles spricht dafür, dass seinerzeit ein Justizmord verübt wurde und mit Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti zwei unschuldige Einwanderer auf dem elektrischen Stuhl starben. Der US-Staat wollte kein Berufungsverfahren

In Deutschland appellierte die Rote Hilfe im Namen ihrer mehr als eine halbe Million Mitglieder. Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann verurteilte die „Blutjustiz der amerikanischen Bourgeoisie“. In Paris und Genf, in London und Amsterdam, Leipzig und Halle seien Arbeiter niedergeknüppelt worden, weil sie es gewagt hätten, „nicht nur gegen die amerikanische Verbrecherjustiz, sondern gegen die Klassenjustiz im eigenen Lande aufzumarschieren“, verkündete Thälmann. Kurt Tucholsky forderte in der Weltbühne eine Begnadigung.

Man schrieb das Jahr 1927. Es ging den Empörten in Deutschland, Italien, Frankreich und vielen weiteren Nationen um zwei junge italienische Arbeiter, denen in den USA die Hinrichtung drohte. Die Proteste halfen nichts. Kurz nach Mitternacht, am 23. August 1927, wurden Bartolomeo Vanzetti und Nicola Sacco auf dem elektrischen Stuhl im Charlestown-Gefängnis (Massachusetts) von Staats wegen getötet. Sie würden sterben, so hatte es Richter Webster Thayer beim Todesurteil formuliert, „durch den Fluss von Elektrizität durch ihren Körper“. Es war eine Riesenstory. Die New York Times berichtete im Detail und auf Seite eins über die Exekution. Gegen 22 Uhr habe ein Elektriker den elektrischen Stuhl getestet. Um Kundgebungen zu unterbinden, hätten 500 Polizisten mit Maschinengewehren, Tränengas und Revolvern die Straßen rings um das Gefängnis abgeriegelt. Eigens installierte Flutlichter hätten die Szene erhellt. Auf dem nahen Charles-Fluss fuhren Patrouillenboote. Nach der Exekution schlugen Polizisten auf trauernde Menschen ein.

Die Henker gingen zügig zu Werke. Als Erster wurde Nicola Sacco ums Leben gebracht. „Lang lebe die Anarchie“, rief er auf Italienisch, nachdem man ihn an den elektrischen Stuhl gefesselt hatte. Seine letzten Worte waren: „Leb wohl, Mutter.“ Bartolomeo Vanzetti habe noch mit dem Gefängnisdirektor gesprochen und ihm gedankt „für alles, was Sie für mich getan haben“. Er sei ruhig und besonnen gewesen: „Ich bin aller Verbrechen unschuldig, nicht nur dieses, sondern aller. Ich bin ein unschuldiger Mann.“ Das Verbrechen: Sacco, Arbeiter in einer Schuhfabrik, verheiratet, zwei Kinder, und Vanzetti, gelernter Bäcker und kleiner selbstständiger Fischverkäufer (beide waren 1908 eingewandert), sollten mit Komplizen am 15. April 1920 in South Braintree südlich von Boston (Massachusetts) den Geldboten Frederick Parmenter und den Sicherheitsmann Alessandro Berardelli überfallen und erschossen haben. Dabei hätten sie 15.776 Dollar erbeutet, Lohngeld für eine Schuhfabrik. Am 5. Mai 1920 wurden Sacco und Vanzetti festgenommen und vier Monate später angeklagt.

Erstaunliche Macht des Ku-Klux-Klan Mitte der 1920er Jahre

Die frühen 1920er Jahre, rückblickend klassifiziert als Periode der „Red Scare“, der Angst vor den Roten, waren eine unsichere Zeit in den Vereinigten Staaten, mit tiefen Gräben zwischen Arm und Reich. Der Erste Weltkrieg und die Revolution in Russland, dazu politische Umbrüche in Westeuropa 1918, lagen nur kurze Zeit zurück. In den Köpfen der Regierenden spukten die Gespenster von Kommunismus und Anarchismus. Nationale Sicherheit wurde großgeschrieben in Washington. Der Sacco-Vanzetti-Fall sei geradezu typisch gewesen für Hass und Angst, überliefert aus der Kriegszeit, schrieb der Historiker Robert Justin Goldstein 1978 in seinem Standardwerk Political Repression in Modern America. Die USA hätten strikte Einwanderungsgesetze erlassen, um die suspekten Migranten aus Ost- und Südeuropa zu stoppen.

Das FBI und die Polizei nahmen Anfang 1920 mehr als 4.000 vermeintliche Bolschewisten und Anarchisten fest. Der Terrorverband Ku-Klux-Klan habe Mitte der 1920er Jahre erstaunliche Macht errungen, so Goldstein, mit „seinen Angriffen auf Schwarze, Katholiken, Juden, Radikale, Einwanderer und andere, die nicht in das Modell eines angepassten und zu 100 Prozent weißen angelsächsischen Amerikaners passten“. Die US-Armee zerschlug 1919 den Stahlarbeiter-Streik in der Industriestadt Gary (Indiana). In Seattle im Staat Washington streikten 1919 die Hafenarbeiter, in Boston im gleichen Jahr die Polizisten, die als Reaktion prompt entlassen und ersetzt wurden. In West Virginia rief der Gouverneur im Mai 1921 das Kriegsrecht aus gegen streikende Bergleute.

Und da standen Vanzetti und Sacco in Massachusetts vor Gericht. Details aus der siebenwöchigen Verhandlung, darunter Erklärungen der beiden zu ihrer Verteidigung und Briefe aus der Haft, lassen sich nachlesen auf der Webseite Famous Trials zum Prozess. Richter Thayer und der Staatsanwalt machten keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die Angeklagten: Anarchisten, die 1917 aus Protest gegen den Krieg vorübergehend nach Mexiko gezogen waren, um der Wehrpflicht zu entgehen. In Massachusetts war zu dieser Zeit eine Gruppe um den 1919 aus den USA deportierten italienischen Anarchisten Luigi Galleani aktiv. Bomben explodierten. 1932 zerstörte eine davon das Haus von Richter Thayer. Er wurde nicht verletzt.

Sacco/Vanzetti-Prozess durchdrungen von „Vorurteilen gegen Ausländer“

Zwischen Urteil und Hinrichtung lagen sechs Jahre. In dieser Zeit wurden Forderungen nach einem Berufungsverfahren lauter. Auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit wuchsen Zweifel an der Schuld der beiden, und mehr noch, an Thayers Prozessführung. Wohl kein anderes Ereignis vor dem Vietnam-Krieg habe im Ausland so starke antiamerikanische Gefühle bei Menschen geweckt, die gegenüber Amerika ansonsten positiv eingestellt waren, schrieb 2009 der US-Historiker Moshik Temkin. Der Prozess habe „Öl ins Feuer der Besorgnis“ über die neue größere internationale Rolle nach dem Krieg gegossen. Der prominente Jurist Felix Frankfurter, nach 1939 Richter am Obersten Gerichtshof der USA, veröffentlichte im März 1927 im Magazin The Atlantic eine vernichtende Analyse. Frankfurter äußerte sich kritisch zu Augenzeugen, die den Raubüberfall gesehen haben wollten. Man könne es nicht „konservativer“ ausdrücken, schrieb er: Die „angemessene Wahrscheinlichkeit“ bei der Schuldfrage zeige weg von Sacco und Vanzetti. Doch der Staat hatte offenbar zu viel in die Todesurteile investiert. Aus seiner Sicht durften die Anarchisten nicht gewinnen mit einem Berufungsverfahren.

Die Hinrichtungen kommen heute gelegentlich zur Sprache, wenn in den USA die Institution der Todesstrafe diskutiert wird. Befürworter halten gern an der These fest, dass noch nie „nachweislich“ ein Unschuldiger getötet worden sei. Nur ganz selten gibt der Staat zu, dass ein Unschuldiger hingerichtet worden ist. 2011 hat der Gouverneur von Colorado den 1939 exekutierten Joe Arridy posthum begnadigt. Der Sohn syrischer Einwanderer war fälschlicherweise wegen Vergewaltigung und Mord zum Tode verurteilt worden. 2005 begnadigte der Staat Georgia posthum die 1945 wegen Mord an einem weißen Mann hingerichtete Schwarze Lena Baker. Sie habe in Notwehr gehandelt.

Fünf Jahrzehnte nach den Hinrichtungen hat der Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, Sohn griechischer Einwanderer und 1988 demokratischer Präsidentschaftskandidat, eine Proklamation zu Sacco und Vanzetti unterzeichnet. Eine „schreckliche Ungerechtigkeit“ sei geschehen, sagte Dukakis dem lokalen Fernsehsender WGBH. Der Prozess sei durchdrungen gewesen von „Vorurteilen gegen Ausländer und Feindseligkeit gegenüber unorthodoxen politischen Ansichten“, stand in Dukakis’ Proklamation. Der 23. August solle in Massachusetts künftig „Nicola-Sacco-und-Bartolomeo-Vanzetti-Gedenktag“ sein. Bürgerinnen und Bürger sollten dafür eintreten, dass Intoleranz, Angst und Hass niemals wieder „rationales Denken, Weisheit und Gerechtigkeit“ besiegen.

Michael Dukakis hat 1988 die demokratischen Vorwahlen gewonnen, unter anderem gegen Senator Joe Biden, der nach einer Plagiatsaffäre ausscheiden musste. Bei der Hauptwahl aber verlor Dukakis gegen den Republikaner George H. W. Bush. Dieser hatte Stimmung gemacht gegen Dukakis, der „zu weich“ sei beim Kampf gegen Kriminalität – lehne er doch die Todesstrafe ab.

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