Unterwegs in Cannes: „Das tue ich mir nicht mehr an“ – WELT
Cannes ist Himmel und Fegefeuer, Messe der Filmkunst und zehntägige Selbstkasteiung. Auf dem gigantischen Festivalplakat an der Fassade des Palais, der Kinokathedrale, prangt als Schutzpatronin eine blutjunge Catherine Deneuve. Drinnen ein Labyrinth aus Treppen, Rolltreppen, Kinos auf fünf Ebenen, verstohlenen Abkürzungen und im Keller tausend Ständen, an denen die Produzenten, Missionare in eigener Sache, ihre Filme in alle Welt verkaufen. Vor der Tür auf der Croisette pflügt die Festivalflotte in Gestalt zahlloser Siebener-BMWs mit dunklen Scheiben und doppeltem „M“ – als Sportabzeichen am Kotflügel und als Städtecode auf dem Nummernschild – rustikal durch die Schlange aus Journalisten. Die stauen sich als dreihundert Meter langer Pulk in der sengenden Sonne vor dem Eingang der Salle Debussy und werfen Blasen wie ein Endlosstreifen Zelluloid.
Auf dem roten Teppich steht Aki Kaurismäki, eine Art Wes Anderson für Depressive. Der Hitze zum Trotz hat sich der Finne in einen schweren Wollanzug gehüllt. Mit unbewegter Miene macht er Faxen, versteckt sich hinter Thierry Frémaux, dem künstlerischen Leiter und allgegenwärtigen Grüßaugust. Der Dresscode ist unbarmherzig elegant, verlangt nach Smoking und Lackschuhen. Frémaux trägt Schlabberanzug und schwarze Sneaker. Der Mann muss Kilometer machen, taucht überall gleichzeitig auf, ein Wiedergänger seiner Selbst.
Auf dem Dach des Palasts sitzt ein Schweizer Kritiker. Es ist sein erstes Mal hier. „Das tue ich mir nicht mehr an“, haucht er schwach und nimmt einen Schluck von dem Weißwein, der hier ab 18 Uhr die Erniedrigten und Beleidigten tröstet. Vor der Brust des Kollegen baumelt ein gelbes Badge. Das ist in der Akkreditierungshierarchie die Höchststrafe, noch unter dem ebenfalls gefürchteten Blau. Darüber wird es langsam besser. Es folgen Rosa, Rosa mit gelbem Punkt und schließlich die sagenumwobenen weißen Badges.
Von ihnen heißt es, dass sie gar nicht mehr vergeben werden und nur mehr als unvergängliche Ehrenabzeichen verdienter Veteranen fortdauern, jener Leute, die das Palais auf Schleichwegen durchhuschen, hier einen Lastenaufzug in den Keller nehmen, dort eine unscheinbare Tür durchschreiten, um plötzlich an einem Ort wieder aufzutauchen, den sonst drei Sicherheitsschleusen versperren, an denen man kontrolliert wird wie am Flughafen.
Ticket gesucht
„Ich fühle mich wie eine Kellerassel“, sagt der traurige Schweizer. Die Terrasse fungiert als Boxenstopp inmitten des brutalen Rennens um die rare Trophäe: einen Platz im Kino. Zehntausende Hoffnungsvolle balgen sich jeden Morgen ab Punkt sieben um Tickets für die Filme vier Tage später. Circa anderthalb Minuten später ist die Reise nach Jerusalem beendet. Die Kinos sind voll. Ein guter Schlaf, ruhige Nerven und zuverlässiges Internet sind das Fundament, auf das die Kritiker bauen. Es sind hektische Actionszenen, die sich hier unbemerkt in der Früh in unzähligen Betten abspielen.
Gerade die Top-Sachen, denen alle entgegenfiebern, laufen meist nur ein einziges Mal. Ein sadistischer Joke: 12.500 akkreditierte Journalisten, 80.000 Festivalbesucher, 2000 Honoratioren jedweder Couleur und 1000 Plätze für „Indiana Jones“ und den neuen Scorsese. Dazu stehen Zahllose vor der Tür, Bettler in Abendgarderobe, im Glitzerkleid von Dolce & Gabbana selbstgemalte Zettel hochhaltend: Ticket gesucht.
Derweil schiebt sich das nach Stars spähende Fußvolk an den Absperrungen vorbei, dirigiert von feschen Polizisten, die in ihren dunkelblauen Uniformen aussehen, als wären sie in den Boutiquen ausgestattet worden, vor deren funkelnden Schaufenstern sie stehen. Chanel, Dior, Prada, Yves Saint Laurent bieten Berufsbekleidung für die Nouveaux-Riches, die aus ihren Lamborghinis klettern, um sich in eine der tausend liederlichen Kaschemmen zu fläzen, die die umliegenden Straßen der Croisette besiedeln wie Austern ein Riff. Die von Champagnerkübeln flankierten Tische mit den weißen Tüchern bersten vor den Krustentieren und Entrecôtes mit Sauce béarnaise und Pommes frites.
Schwankende Gestalten
Für die schreibenden Profis ist Nahrungsaufnahme Glückssache. Vier Filme am Tag bedeuten allein rund zehn Arbeitsstunden. Dazu kommen jeweils eine Dreiviertelstunde Anstehen vorm Saal und das Hin- und Herhetzen zwischen den Kinos. Ebenfalls einkalkuliert werden müssen triviale Verrichtungen wie Zähneputzen, Duschen und die Anreise aus den Unterkünften, die fast immer weit entfernt liegen, teilweise in den Nachbarorten Juan-les-Pins und Antibes. In Cannes werden für die Zimmer selbst in den Außenbezirken 400 Euro plus aufgerufen. Wer sich erst Wochen vor dem Festival kümmert, dem präsentiert die Webseite Booking.com ungerührt Zahlen, die für eine Woche Aufenthalt spielend die 10.000 Euro überschreiten.
Also hungern die Journalisten, so wie die Kinder in Jessica Hausners Wettbewerbsbeitrag „Club Zero“, wo Mia Wasikowska den Schülern eines Eliteinternats weismacht, man könne von nichts leben als Luft und Liebe. Der Film ist eine herbe Enttäuschung, eine unentschiedene Satire auf unsere consciousness-verliebte Gegenwart, in der der Glaube an Klimaapokalypse, den Tempel des eigenen Körpers und esoterischen Hexenspuk zusammen mit der Verwöhntheit eines reichen Elternhauses ein Amalgam bilden, das sich gut mit dem nächsten Modewort beschreiben lässt: toxisch. Außer Klischees und coolen Kostümen hat Hausners Film allerdings nichts zu bieten.
Ganz anders vorhin Kaurismäki. Er ist Stammgast hier. Diesmal erzählt er ein Märchen von zwei Königskindern aus Helsinkis Arbeiterklasse, zwischen denen ein Meer aus Bier und Wodka liegt und die schließlich doch zueinanderfinden. In einem weitgehend humorfreien Wettbewerb gibt es endlich ein paar Lacher. Am lustigsten die Szene, in der zwei alte Männer aus dem Kino kommen, in dem sie gerade den Zombiefilm „The Dead Don’t Die“ gesehen haben, der 2019 Cannes eröffnete.
„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“, heißt es am Anfang von „Faust II“, als sich Faust an seine Vergangenheit erinnert. Bill Murray schießt abermals einem Zombie den Kopf weg. Nachher vor der Tür zum Film im Film sagt der eine Zuschauer zum anderen: „Großartiger Film! Er erinnert mich an Bressons ‚Tagebuch eines Landpfarrers‘.“ Darauf der andere: „Und mich an Godards ‚Außenseiterbande‘.“ Ein liebevoll-spöttischer Gruß an Jim Jarmusch, den Aki Kaurismäki Amerikas, und eine sanfte Mahnung, dass im Kino nichts bleibt, wie es einmal war, sogar wenn es sich selbst in den Schwanz beißt. Nachher stehen Kaurismäki und Jarmusch, wie aus dem Nichts herbeimaterialisiert, vor der Tür und rauchen. Auf gute Weise fühlt es sich an, als wären die Neunziger zurück.
Trotz der sechs Frauen, die um die Goldene Palme mitkonkurrieren, ist es vor allem ein Altherrenfestival, in dem die deutsche Nachwuchshoffnung Wim Wenders (77) heißt. Der einzige Deutsche im Wettbewerb trägt neuerdings die Haare kurz, dazu Oberlippenbart, als bewerbe er sich auf seine alten Tage für Alain Delons Rolle im Remake von Jean-Pierre Melvilles „Vier im roten Kreis“, von dem wiederum ein Plakat an einer Wand in Kaurismäkis „Fallende Blätter“ hängt.
Es soll ein Preis verliehen worden sein
„Das Rad des Schicksals“ heißt der neue Indiana Jones, der ein paar Tage zuvor Premiere hatte. Der Titel spielt auf eine Zeitmaschine an, von Archimedes höchstpersönlich konstruiert. Dieses Rad dreht sich auch auf dem Festival unablässig, wo sich Harrison Ford, Martin Scorsese und Robert De Niro die Klinke in die Hand geben. Auch unter Cineasten ist die Côte d’Azur ein Rentnerparadies. Wenders ist zum Dreh nach Japan gefahren, um die „Perfect Days“ einer alternden Reinigungsfachkraft öffentlicher Toiletten zu dokumentieren. Das heißt, der Film ist schon Fiktion, aber er folgt seinem fantastischen Hauptdarsteller Kôji Yakusho wie ein stummer, treuer Hund, die erste halbe Stunde, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird.
Die einzige echte Doku im Wettbewerb, die erste seit vielen Jahren, kommt vom Chinesen Wang Bing. „Youth (Spring)“ heißt sein vierstündiger Wackelkameratrip durch einen Textilsweatshop in der chinesischen Provinz. Der Kontrast zum High-Life der Croisette könnte nicht größer sein. Aus dem Zwielicht der maroden Manufaktur in einer Kleinstadt ein paar Hundert Kilometer vor Shanghai stolpert man ins gleißende südfranzösische Licht. Abends macht nach zweijähriger Renovierung das Carlton wieder auf, das legendäre Hotel, das einst Elton John als Kulisse für das Video von „I’m Still Standing“ diente. Die Party am Privatstrand hat indes den Charm einer Hochzeit unter Frankfurter Immobilienspekulanten, mit Canapés und einer Band, die gefällige Cover gefälliger Songs spielt: Chris Isaaks „Wicked Game“ und George Michaels „Careless Whisper“. Die Gäste wippen in High-Heels und Tassel-Loafers, nippen Moët und Magaritas.
Das Kinderfest findet am Nachmittag statt, in Form der TikTok-Party an der Plage des Palmes. Es soll ein Preis verliehen worden sein. Anderntags empfängt der Bürgermeister von Cannes zu einem Presselunch im malerischen Altstadtviertel Le Suquet. Auf Französisch klingt das gleich viel besser: déjeuner de la presse internationale. Unter den alten Festungsmauern werden Fisch und Gemüse vom nahen Forville-Markt gereicht. Die Begleitmusik kommt aus Champagerflöten.
Die absolute Versöhnung ereilt Cannes spät und in Gestalt von Wes Anderson. Der verschrobene Amerikaner ist mit „Asteroid City“ in seine gelben Periode zurückgekehrt, der auch „The Darjeeling Limited“ angehört. Sein Letzter, „The French Dispatch“, der hier vor zwei Jahren außer Konkurrenz lief, war eher Türkis. Diesmal geht es unter erheblichem Staraufgebot um einen Film in einem Theaterstück in einem Film im Film. Außerdem vergräbt Tom Hanks die Asche seiner Tochter in der Wüste von Nevada, ein Alien macht seine Aufwartung und der Roadrunner schaut vorbei, Miep-Miep. Dazu rumpeln Güterzüge vorbei, die Avocados, Pecannüsse und Atombombensprengköpfe transportieren. Auf Letzteren steht: „Vorsicht! Nicht ohne Zustimmung des Präsidenten detonieren.“ Ab und zu, während im Wüstendiner Erdbeermilchshakes serviert werden, geht doch einer hoch. Dann rumpelt es im Bild, und einer der vielen hochbegabten Teenager verzieht eine skeptische Augenbraue.
Ein Auszug aus dem Cast: Scarlett Johansson, Jason Schwartzman, Edward Norton, Adrien Brody, Bryan Cranston, Tom Hanks, Steve Carell, Rupert Friend, Willem Dafoe, Matt Dillon, Margot Robbie, Jarvis Cocker, Jeffrey Wright, Liev Schreiber und Jeff Goldblum. Johannson bekommt normalerweise zwischen 15 und 20 Millionen Dollar pro Rolle. Hier spielt sie zum Mindestlohn der amerikanischen Schauspielergewerkschaft mit, für rund 4000 Dollar die Woche. Anderson ist Hollywoods armer Poet und, wie er hier wieder mal beweist, sein größtes Genie. „Asteroid City“ ist der Traum des popkulturellen Amerika, gesehen durch die Augen eines inselbegabten Kindes. Das Kino verlässt man verzaubert, voll erstarkten Glaubens an die Menschheit, in der alles gut sein könnte, wenn sie nur ein wenig pastelliger wäre. Darauf ein paar Austern und einen Strawberry Milkshake.
Source: welt.de