Union und Patriotismus: Mehr Schwarz-Rot-Gold – was spricht dagegen?

Die Unionsfraktion im Bundestag will mehr Patriotismus wagen. Recht hat sie, findet unser Autor. Wäre die Regierung weise, würde sie den Antrag unterstützen.

Union und Patriotismus: Öfter Flagge zeigen? Die Vorschläge der Union für mehr Patriotismus verdienen Beachtung, findet unser Autor.
Öfter Flagge zeigen? Die Vorschläge der Union für mehr Patriotismus verdienen Beachtung, findet unser Autor.

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Sollten wir mehr Patriotismus wagen? Die Unionsfraktion im
Bundestag meint ja
. Und obwohl ich den Initiator des Antrags, Phillip Amthor,
für eine fragwürdige und etwas peinliche Gestalt halte: Wo er recht hat, hat er recht.

Zwar ist die vordergründige Absicht der Union klar: Sie, die
wie keine zweite deutsche politisch Kraft für die Überwindung des alten
deutschen Nationalismus steht, die unter Konrad Adenauer die Westbindung über
die Wiedervereinigung stellte; die unter Helmut Kohl die europäische Einigung als
notwendiges Gegengewicht zur nationalen Einheit vorantrieb; die unter Angela
Merkel
die Umwandlung Deutschlands in eine multiethnische und multikulturelle
Gesellschaft unumkehrbar machte – die Union also, die unter der Fahne des Konservativismus
die Modernisierung des Landes vorantrieb, sieht sich von einer wirklich
reaktionären Kraft herausgefordert und will gegen die mit nationalistischen
Parolen operierende AfD Flagge zeigen.

Gleichzeitig möchte sie die regierende Dreierkoalition als unpatriotisch erscheinen lassen und die Widersprüche zwischen der FDP, in der die nationalliberale
Option immer eine Versuchung ist, und den Koalitionspartnern vergrößern. Beide Ziele
– der AfD schaden und die Koalition aus SPD, Grünen und FDP in
Verlegenheit bringen – sind legitim. Den Patriotismus dafür zu missbrauchen
ist, nun ja, unpatriotisch. Typisch Amthor halt, der clever, aber nicht klug
ist.

Dennoch verdienen die Vorschläge der Union Beachtung, und wäre die
Regierung ihrerseits weise, würde sie den Antrag der Union unterstützen, den Christdemokraten
den Wind aus den Segeln nehmen und klarmachen, dass es einen Konsens zwischen
den staatstragenden Parteien über die Haltung zur Nation gibt, wie es ihn ja
auch in der Unterstützung der Ukraine gab und gibt, die nicht zuletzt um das
Recht kämpft, eine Nation zu sein.

Kaum ein Land ist frei von der Schmach

Mehr Schwarz-Rot-Gold an Behörden und Schulen, einen Tag der
Verfassung am 23. Mai, mehr öffentliche Gelöbnisse der Bundeswehr, mehr
Selbstvergewisserung der eigenen Geschichte: Was spricht dagegen? Gebannt verfolgten
Millionen Deutsche die Krönung von König Charles III. im Fernsehen. Eine gute
Freundin – und gute deutsche Republikanerin – bekannte, dass sie von der
Zeremonie zu Tränen gerührt war. Das war ich nicht, obwohl Charles mein König
ist. Aber ich gebe zu, dass ich immer gegen Tränen ankämpfen muss, wenn ich
Winston Churchills Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede höre oder wenn am letzten Abend
der Proms, des großen Londoner Musikfestivals, das Publikum aus vollem Hals Land of Hope And Glory singt. Den Tränen war ich auch nah, als am Denkmal
für die gefallenen Soldaten Großbritanniens und des Empire im belgischen Ypern abends die
Trompete erklang. Und wenn ich William Blakes Jerusalem lese, erinnere ich
mich, wie wir im Internat diese Hymne gesungen haben, mit ihrem bis heute nicht eingelösten
Versprechen, in Englands grünen Auen die himmlische Stadt zu erbauen.

Es gebe schwierige Vaterländer, sagte der erste
Bundespräsident; Theodor Heuss meinte natürlich sein eigenes. Aber alle Vater-
und Mutterländer sind problematisch. Kaum ein europäisches Land ist frei von
der Schmach des Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus, der sozialen Ungerechtigkeit
und des rabiaten Chauvinismus. Der Nationalismus will das nicht wahrhaben,
pflegt stattdessen ein Opfernarrativ und die entsprechenden Ressentiments,
statt die Geschichte, wie sie wirklich war – und die entsprechenden Gefühle der
Scham für die Untaten der eigenen Nation und der Dankbarkeit für diejenigen,
die dagegen kämpften – anzunehmen.

Von Bertolt Brecht lernen

Wenn von Patriotismus die Rede ist, soll also nicht
Hurra-Patriotismus gepflegt werden. Aber ich war doch peinlich berührt, als ich
beim Besuch der Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe Flanderns mit einer
Reisegruppe, deren Mitglieder aus allen Ländern des Commonwealth kamen, den deutschen
Friedhof in Langemarck sah, wo 1914 deutsche Studenten singend in den Tod
marschierten. Er war verlassen, heruntergekommen, vergessen. Da schämte ich
mich für mein zweites Vaterland.

Es geht nicht darum, wie es Alexander Gauland tat, das
Dritte Reich zu einem „Fliegenschiss“ zu erklären; es geht aber schon darum,
die deutsche Geschichte vor und nach Hitler – und den Widerstand gegen die
Nazis – nicht zu einem Fliegenschiss verkommen zu lassen.

Wir wollen ja, dass Zuwanderer mit der deutschen
Staatsbürgerschaft – die sie nun dank der Koalition, die sich hier wirklich als Fortschrittskoalition erweist, leichter erwerben können – in die
Verantwortungsgemeinschaft eintreten, die Deutschland auch ist. Dass sie
begreifen, warum die Erinnerung an den Holocaust und der Schutz jüdischen
Lebens Staatsräson sind; warum aus der Katastrophe, für die Langemarck steht, der
Einsatz für ein vereintes Europa folgt; und warum Deutschland die Fahne, die
1848 auf den Barrikaden wehte, 1918 und wieder 1949 zur Fahne der Nation
erklärte.

Wir Deutschen sind zu Solidarität fähig

Wir stehen vor großen Aufgaben, die nur mit solidarischem Streit
und streitbarer Solidarität zu lösen sind: Die russische Aggression in der
Ukraine
muss beendet, der Klimawandel gestoppt, die Einheit Europas vorangebracht
werden, um nur die drei wichtigsten zu nennen. Und wir Deutschen sind ja zu
Solidarität fähig. Neulich saß ich beim Abendessen meinem britischen Landsmann
John Kampfner gegenüber, der den „Soli“ lobte. Einen solchen Beitrag würden die
Menschen in den reichen Gegenden Südenglands für die abgehängten Gebiete des
Nordens nie leisten. Auch in der Corona-Krise nahmen junge Deutsche, ohne zu
murren, viele Härten auf sich, um ältere zu schützen. Wie sagte Merkel? Wir
schaffen das.

Deshalb hatte die SPD-Abgeordnete Dunja Kreiser unrecht, als
sie zum Antrag der Union meinte, über Verfassungspatriotismus könne man debattieren,
einen „Patriotismus im weiteren Sinne“ lehne sie aber ab. Der
Verfassungspatriotismus ist kein Patriotismus; er ist die Treue zu den im
Grundgesetz verankerten westlichen Werten, die in der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948 und vielen anderen Dokumenten festgeschrieben sind. Was
aber an der Verfassung spezifisch deutsch ist, wie etwa die Kulturhoheit der
Länder, kann man durchaus ablehnen, gerade weil man Patriot ist und dem Land
ein besseres Schulsystem wünscht.

Auf der Linken sollte man von Bertolt Brecht lernen, was
Patriotismus sein kann. „O Deutschland, bleiche Mutter! / Wie sitzest du
besudelt / Unter den Völkern“, klagte der Exilierte 1933. Wer aber
Deutschland nicht als „Mutter“ begreift, kann diese Klage nicht begreifen. 17
Jahre später formulierte Brecht in seiner Kinderhymne die Grundlagen eines
deutschen Patriotismus: „Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern
woll’n wir sein / Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein / Und
weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das Liebste
mag’s uns scheinen / So wie andern Völkern ihr’s.“

Und ja: Auch dabei kommen mir die Tränen.