Umgehung der Russland-Sanktionen: So können wir Wladimir Putins Nachschub kappen

Kremlchef Putin
Foto: MIKHAIL KLIMENTYEV / AFP
Um ein kaputtes Fischernetz zu flicken, müssen Sie zuerst die Löcher finden. Das ist das große Verdienst der gemeinsamen Recherchen von SPIEGEL, dem norwegischen Unternehmen Corisk und weiterer internationaler Partner: Sie zeichnen ein detailliertes Bild der Entwicklungen im Handel mit Russlands Nachbarstaaten seit Inkrafttreten der Russlandsanktionen vor mehr als einem Jahr. Vor allen Dingen im Vergleich mit den Handelsmustern der vergangenen drei Jahre sticht der drastische Anstieg westlicher Warenexporte nach Kasachstan, Armenien und in andere Staaten stark hervor.

Foto:
Norwegian Helsinki Committee
Berit Lindeman ist Generalsekretärin des Norwegischen Helsinki Komitees. Lindeman beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der Menschenrechtslage in Russland und Eurasien. Das Komitee setzt sich seit Ende der Siebzigerjahre für Menschenrechte ein, ein Schwerpunkt ist dabei der postsowjetische Raum. Die NGO arbeitet mit dem Europarat und den Vereinten Nationen zusammen.

Foto:
Norwegian Helsinki Committee
Aage Borchgrevink ist leitender Mitarbeiter des Norwegischen Helsinki Komitees. 2012 erschien sein Buch »Eine norwegische Tragödie« über die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya.
Die Sanktionskoalition hat, angeführt von der EU und den USA, in der Geschichte bislang beispiellose Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt. Die Folge war ein starker Rückgang des direkten Handels mit Moskau. Doch allem Anschein nach sind die Ausfuhren nach Russland weitgehend umgeleitet worden – und sie erreichen inzwischen bereits fast wieder dasselbe Niveau wie vor Kriegsausbruch. So stark ist der westliche Handel mit Kasachstan, Armenien, Belarus, Georgien und Kirgisistan angestiegen – und er wächst weiter.
Zwar konnten investigative Journalisten bisher nur in Einzelfällen die vollständigen Lieferketten von Waren bis nach Russland verfolgen. Doch es scheint wahrscheinlich, dass die Umgehung in viel größerem Ausmaß abläuft.
Verstöße gefährden die westliche Koalition
Es ist wichtig, sich klarzumachen, was das konkret bedeutet: Dieser Handel stärkt Russlands Fähigkeiten, seinen illegalen Krieg länger und mit größerem Einsatz fortzuführen. Für die Ukraine bedeutet das mehr Leid als bei einer lückenlosen Durchsetzung der Sanktionen. Und auch die westlichen Regierungen sollten alarmiert sein, untergräbt die aktuelle Lage doch die Glaubwürdigkeit der Sanktionskoalition.
Die Sprengkraft darf nicht unterschätzt werden: Die Tatsache, dass innerhalb des westlichen Lagers, auch innerhalb der EU, Staaten höchst unterschiedlich über die Einhaltung der Sanktionen wachen, hat das Potenzial, diese Koalition über kurz oder lang zu zerreißen. Länder werden sich fragen, warum sie einen höheren Preis für die Einhaltung der Sanktionen zahlen sollten, während andere – insbesondere Deutschland und Litauen – an erheblichen Handelsüberschüssen mit Russlands Nachbarn verdienen.
Sanktionsregelungen haben sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem wichtigen Instrument zur Durchsetzung von Menschenrechen entwickelt. Dem internationalen System zum Schutz der Menschenrechte fehlt es ansonsten an Hebeln, um Staaten und Einzelpersonen zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Strafbarkeitslücke ist ein großes Problem. Wenn das Führen eines Krieges keine Konsequenzen mehr hat, dann wird die Schwelle für weitere bewaffnete Konflikte in gefährlicher Art und Weise sinken. Die Verhängung von Sanktionen war bislang die Reaktion des Westens auf diese strukturelle Straflosigkeit.
Russlands Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten bestätigt dieses Muster, von den bewaffneten Konflikten in Tschetschenien in den Neunzigerjahren bis zum Krieg in der Ukraine heute. Es hat in dieser Zeit viele Verbrechen gegeben, aber selten Strafen. Präsident Wladimir Putin hat offenbar daraus die Lehre gezogen, dass Krieg ein kostengünstiges Mittel zur Konsolidierung seiner Macht ist. Die Sanktionen gegen Russland dienen also einem menschenrechtlichen Zweck.
Wenn nun Firmen exzessiv in Russlands Nachbarländer exportieren, spielen sie mit dem Feuer. Sie riskieren strafrechtliche Ermittlungen wegen der Umgehung von Sanktionen, aber auch Zivil- und Sammelklagen von ukrainischen Opfern des Krieges, die Wiedergutmachung verlangen dürften. Wenn Unternehmen Güter für die russische Militäraktion in der Ukraine geliefert haben, könnten sie sich mitschuldig gemacht haben an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für solche Vergehen gilt eine universelle Gerichtsbarkeit. Sie können in einer Vielzahl von Ländern vor Gericht gebracht werden.
Die EU tut nicht genug
Seit Dezember hat die EU ihre Bemühungen verstärkt, das Unterlaufen der Sanktionen zu verhindern. Die EU-Kommission arbeitet zurzeit an ihrem elften Sanktionspaket und bringt Ideen ins Spiel, die dazu beitragen könnten, einige Löcher zu stopfen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schlug bei einem Besuch in Kiew am 9. Mai vor, als letztes Mittel könnte Europa die Ausfuhr bestimmter Waren auch in Drittländer sanktionieren, die »unsere Sanktionen absichtlich umgehen«.
Wir bezweifeln, dass die Vorschläge weit genug gehen. Um eine wirksame Kultur der Sanktionsbefolgung zu schaffen – was in der Praxis bedeutet, dass Firmen striktere Prüfungen durchführen – muss auf der Ebene von EU und Nationalstaaten viel mehr getan werden. Wir benötigen mehr Werkzeuge, um eine lückenlose Durchsetzung zu erreichen.
Wir schlagen deshalb folgende Schritte vor:
-
Auf EU-Ebene sollten die Mitgliedstaaten die Sanktionsverordnung von 2014 stärken, es ist das wichtigste Gesetz hinter dem europäischen Sanktionssystem. Heute verbietet es die »wissentliche und vorsätzliche« Umgehung der Sanktionen. Diese Verordnung sollte um eine Fahrlässigkeitsklausel ergänzt werden, um Umgehungen verfolgen zu können, von denen Unternehmen vernünftigerweise hätten wissen müssen, auch wenn sie diese selbst nicht aktiv geplant haben. Ein solcher Passus würde eine Verfolgung von Exporteuren erleichtern, die seit Kriegsbeginn Verkäufe in Russlands Nachbarstaaten teils drastisch ausgeweitet haben, dabei aber vortäuschen, keine Ahnung zu haben, wohin ihre Produkte weiter gelangen.
-
Die Sanktionskoalition hat zwar Beschränkungen gegen Russlands engen Verbündeten Belarus verhängt, doch das Netz weist immer noch große Lücken auf. Belarus sollte wie Russland für die Ausfuhr von kriegswichtigen Gütern sanktioniert werden, um die seit Beginn der Sanktionen stark ansteigenden Verkäufe von schweren Lkw, Zugmaschinen, Autos, Drohnen und Chemikalien zu beenden.
-
Die EU sollte darüber hinaus strengere Ausfuhrregelungen für kriegswichtige und für Dual-Use-Güter einführen, Waren also, die sowohl zivil verwendet werden können, als auch militärisch. Diese Regelungen sollten für alle Mitglieder der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) gelten. Dazu gehören Belarus, Kasachstan, Kirgisistan und Armenien, die mit Russland einen gemeinsamen Markt und eine Freihandelszone teilen. In den vergangenen Monaten haben sich diese Staaten als wichtigste Einfallstore für Lieferungen erwiesen, mit denen die Sanktionen nach Russland umgangen werden. Die Ausfuhr von solchen potenziell kritischen Waren könnte etwa durch eine Quotenregelung oder Exportlizenzen streng geregelt und gedeckelt werden.
-
Auf staatlicher Ebene sollten die Mitgliedsländer der Sanktionskoalition Sonderermittlungsgruppen bilden, die sich ausschließlich um die Einhaltung der Maßnahmen kümmern. In einigen Ländern ist das bereits der Fall, dort arbeiten Beamte aus Zoll, Polizei und den zuständigen Behörden Hand in Hand. Bereits die Einrichtung einer solchen Institution kann die Compliance-Kultur in der Wirtschaft stärken.
-
Der eigentliche Schlüssel aber liegt bei den Unternehmen selbst. Die Verbände der Wirtschaft sollten hier eine stärkere Rolle spielen, indem sie Firmen über die mit der Umgehung von Sanktionen verbundenen erheblichen Risiken informieren.
In der Ukraine sterben unterdessen weiter jeden Tag Zivilisten und Soldaten durch eine Militärmaschine, die auch durch Sanktionsumgehung am Laufen gehalten wird. Präsident Putin setzt allem Anschein nach auf einen langen Krieg und darauf, dass sich die demokratische Welt irgendwann wird ablenken lassen von der Unterstützung der Ukraine. Um das zu verhindern ist es entscheidend, jetzt schnell zu handeln.