Ukrainegipfel: Chaos und Machtspiele

Mehr als drei Jahre haben die Diplomaten Russlands und der Ukraine offiziell keine Verhandlungen geführt. An diesem Freitag jedoch kam es endlich zu einem Treffen in Istanbul. Das Gespräch war bereits nach zwei Stunden wieder vorbei. Das einzige konkrete Ergebnis: Beide Länder haben sich auf den bisher größten Gefangenenaustausch seit dem russischen Einmarsch geeinigt. Russland und die Ukraine werden jeweils 1.000 Kriegsgefangene freilassen. Außerdem sollen beide Länder einen detaillierten schriftlichen Vorschlag für einen Waffenstillstand ausarbeiten. Diese Vorschläge könnten dann bei einem nächsten Treffen besprochen werden.

Wann und wie dieses Treffen stattfinden kann, bleibt ungewiss. Schon die Vorbereitungen auf den Gipfel am Freitag waren in weiten Teilen chaotisch und geprägt von Machtspielen. Wir haben die Ereignisse der vergangenen Tage untersucht. Eine Rekonstruktion. 

Samstag, 10. Mai: Überraschung in Kyjiw

Die Erwartungen sind gering, als die Männertruppe nach Kyjiw reist: Die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Polens und Großbritanniens wollen wieder einmal Solidarität mit der Ukraine zeigen, Hände schütteln mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Mut machen.

Doch dann: Selenskyj tritt nach dem Treffen vor die Presse. Den pompösen Marienpalast im Rücken verkündet er ein Ultimatum, gemeinsam mit den Europäern: Waffenruhe ab dem 12. Mai, also am darauffolgenden Montag. Und wenn nicht? Dann soll Europa die Sanktionen gegen Russland „drastisch verschärfen“.


Ukrainegipfel: Zum ersten Mal drohten Europäer und US-Amerikaner unisono und mit einer konkreten Deadline.

Zum ersten Mal drohten Europäer und US-Amerikaner unisono und mit einer konkreten Deadline.

Die Idee war mit US-Präsident Donald Trump abgesprochen. Jeder der europäischen Staats- und Regierungschefs soll im Laufe des Tages von Kyjiw aus einmal mit ihm telefoniert haben. Am Nachmittag gibt es ein Gruppentelefonat mit Trump, fürs gemeinsame Foto.
Putin, der gerade in Moskau seinen Diktatorfreund Xi Jinping und rund zwanzig andere Staatschefs zur pompösen Militärparade am 9. Mai empfangen hat, ist plötzlich unter Zugzwang. Zum ersten Mal drohten Europäer und US-Amerikaner unisono und mit einer konkreten Deadline.

Die vorläufige Antwort überlässt Putin seinem Scharfmacher Dmitri Medwedew. Die Europäer sollten sich ihre Friedenspläne sonst wohin schieben, schreibt dieser noch am Abend auf X. 

Sonntag, 11. Mai: Putins Manöver

In der Nacht auf Sonntag bereitet Putin eine Antwort vor. Sein Presseteam lässt ausländische Journalisten zu einer angeblichen Pressekonferenz zusammenrufen. Putin werde „zur US-Primetime“ eine „Bombe“ hochgehen lassen, schreiben Journalisten aus dem Kreml-Pool. Dann, nachts um drei Uhr, sein Auftritt. Putin beschuldigt die Ukraine, die bisherigen Waffenruhen gebrochen zu haben. Deswegen schlage er „direkte Gespräche“ vor, um die „Konfliktursachen“ zu beseitigen, am 15. Mai in Istanbul. Fragen von Journalisten sind nicht erlaubt. 

Aus dem Putinschen übersetzt bedeutet das ein „Nein“ zur Waffenruhe. Stattdessen will Russland wieder über seine weitreichenden Ansprüche sprechen, darunter eine Neutralität der Ukraine, Gebietsabtretungen an Russland und eine Verkleinerung der ukrainischen Armee. Damit spielt Putin den Ball zurück an Selenskyj.

In Kyjiw kommt das nicht gut an. Erst müsse es zu einer vollständigen 30-tägigen Waffenruhe kommen, wie sie die Amerikaner vor gut zwei Wochen vorgeschlagen hätten, dann könnten Friedensgespräche beginnen, schreibt Selenskyjs Stabschef. Auch Macron und Merz nennen den russischen Vorschlag ungenügend.

Am Nachmittag greift auch der türkische Präsident zum Telefonhörer: Erst spricht er mit Macron, dann mit Putin, danach wendet Recep Tayyip Erdoğan sich an die Öffentlichkeit. Was gerade passiere, sei ein „historischer Wendepunkt“ und eine „Gelegenheit, die genutzt werden sollte“.

Am frühen Abend mitteleuropäischer Zeit dann ein Machtwort von Trump: Russland und die Ukraine sollen sich „UNVERZÜGLICH“ treffen, schreibt er auf Truth Social. Selenskyj bleibt wenig übrig, als einzuwilligen. Doch er hat noch eine überraschende Idee. Putin soll persönlich nach Istanbul kommen, zu einem direkten Gespräch. Das kann Putin nicht akzeptieren, oder etwa doch?

Montag, 12. Mai: Ultimatum läuft aus

Es beginnt ein großes Rätselraten: Kommt Putin? Nur dann dürften die Gespräche wirklich „historisch“ werden. Doch Russlands Präsident schweigt. Lediglich sein außenpolitischer Berater Juri Uschakow darf verkünden: Man ist bereit, sich mit den Ukrainern zu treffen.

Derweil ist das Ultimatum der Europäer fast abgelaufen. Der neue Regierungssprecher in Berlin warnt Russland: Die Uhr tickt noch bis Mitternacht. Putins Sprecher Dimitri Peskow daraufhin: „Wir lassen uns keine Ultimaten stellen.“

In Kyjiw verdichten sich die Hinweise auf ein Treffen in Istanbul. Das Presseteam des ukrainischen Präsidenten gründet die WhatsApp-Gruppe „Istanbul UA Press“, um die Reise zu koordinieren.


Ukrainegipfel: Putin hält seine Delegation bis zum Schluss geheim.

Putin hält seine Delegation bis zum Schluss geheim.

Dienstag, 13. Mai: Fake-News von Putins Lieblingsblatt

Das Ultimatum der Europäer ist abgelaufen. Darüber spricht aber kaum noch jemand. Stattdessen wird die Frage nach der Zusammensetzung der russischen Delegation drängender. Das wissen auch Putins Presseleute, und sie befeuern die Neugier offenbar gezielt.

Denn am frühen Nachmittag setzt Putins Lieblingszeitung, die Komsomolskaja Prawda, einen Post im Messengerdienst Telegram ab. Es soll ein Scoop sein: Außenminister Sergej Lawrow und Putins langjähriger Berater Andrei Uschakow sollen fahren. Damit wäre die Delegation hochrangig und die Gespräche nicht sofort zum Scheitern verurteilt.

Nach wenigen Minuten wird der Post gelöscht. Viele Medien hatten ihn bereits übernommen. Einige Stunden später berichtet die Washington Post mit Verweis auf „ehemalige hochrangige Offizielle“ über Uschakow und Lawrow. Peskow kommentiert: Der Präsident werde schon rechtzeitig informieren.

Die ukrainischen Planungen werden derweil konkreter. Das Team des ukrainischen Präsidenten erstellt eine Liste mit Journalisten, die an einer „Pressekonferenz in Istanbul“ teilnehmen wollen.

In Kyjiw tritt Selenskyj vor die Medien: „Putin hat Angst, mich zu treffen“, sagt er, „einen Waffenstillstand sollten er und ich direkt aushandeln.“ Wenig später verbreitet sich das Gerücht, der ukrainische Präsident sei schon in Istanbul. Ein Übersetzungsfehler türkischer Medien: Selenskyj werde über Ankara reisen, stellt das Präsidialamt klar.  

Mittwoch, 14. Mai: Last-minute-Treffen im Kreml

Das PR-Theater um die russische Delegation geht weiter. Putins Sprecher Peskow gibt dem Hofberichterstatter Pawel Sarubin vom Sender Rossija 1 ein Interview.

Sarubin: „Herr Peskow, es bleiben nur noch 24 Stunden.“
Peskow: „Bis was?“
Sarubin: „Bis Donnerstag.“
Peskow: „Ja, das stimmt. Ganz genau.“

Klar ist: Die Welt soll im Unwissen bleiben. Journalisten in der Türkei rätseln, wo sie sich morgen positionieren sollen. Der Austragungsort in Istanbul hängt von der Hochrangigkeit der Delegationen ab. Oder doch besser nach Ankara fliegen? In Kyjiw plant das Präsidialamt nun vor allem das Treffen mit Erdoğan in Ankara. Ob es eine Delegation für Istanbul gibt und wer ihr angehören wird, bleibt unklar.

Währenddessen kündigt Trump an, vielleicht nach Istanbul zu reisen: „Wenn Putin kommt.“ Später heißt es, dass sein US-Gesandter Steve Witkoff mit US-Außenminister Marco Rubio anreisen wird. Nach Istanbul. Am Freitag, nicht am Donnerstag.

Inzwischen betritt ein neuer Akteur die Bühne: Brasiliens Präsident Lula da Silva sagt, er wolle auf dem Rückweg aus China einen Zwischenstopp in Moskau einlegen. „Ich will Putin überreden, nach Istanbul zu fahren“, sagt er dem Sender CNN. Eine Audienz in Moskau bekommt er aber nicht. Nur ein Telefonat. 

In der WhatsApp-Planungsgruppe des ukrainischen Pressesprechers geht es mittlerweile nur noch um Termine in Ankara. Selenskyj soll dort Erdoğan treffen. Journalisten, die nach Plänen für Istanbul fragen, werden ignoriert.

Am Abend findet im Kreml eine Besprechung statt. Mit dabei sind Außenminister Lawrow, Verteidigungsminister Andrei Beloussow, hochrangige Generäle vom Generalstab und Wladimir Medinski. Er leitete im März 2022 die russische Delegation bei Istanbuler Gesprächen mit der Ukraine. Offenbar gibt Putin noch ein paar letzte Anweisungen. Dann meldet die staatliche Agentur Tass die Namen der Delegation. Klar wird: Lawrow ist nicht dabei. Putin schickt Leute ohne Macht. Ein dreister Einfall.

Auf ukrainischer Seite bleibt nach wie vor unklar, wen das Land nach Istanbul schickt. Hochkarätige Diplomaten wissen am frühen Abend nicht einmal, wo sie am nächsten Tag sein werden: in Ankara mit ihrem Präsidenten, oder in Istanbul?

Donnerstag, 15. Mai: „Attrappe“ oder „Intrige“?

Der Tag beginnt erwartbar chaotisch. Journalisten haben sich in Istanbul vor dem Dolmabahçe-Palast aufgestellt. Hier fanden schon 2022 Friedensverhandlungen statt. Russische Agenturen behaupten, dass die Gespräche um zehn Uhr beginnen. Eine Falschmeldung. Selenskyj und sein Team sind auf dem Weg nach Ankara.

Nach der Landung klingt der ukrainische Präsident genervt. Die russische Besetzung sei eine „Attrappe“. Er wiederholt: Putin habe Angst, mit ihm zu reden. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, schimpft daraufhin im weit entfernten Moskau: Selenskyj sei „ein Clown und ein Loser“.

Am frühen Nachmittag teilt das ukrainische Präsidialamt eine Nachricht auf allen Kanälen: Selenskyj habe in Ankara eine hochrangige Delegation dabei. Trump wiederum sieht kein Problem, dass die Russen Hinterbänkler schicken. „Ich habe nicht einmal nachgeschaut, wer da kommt.“ Auch dass Putin in Moskau bleibt, stört ihn nicht. „Ich bin ja auch nicht da“, sagt er vor Journalisten an Bord der Air Force One. 

Stattdessen sind seine Sondergesandten Witkoff und Keith Kellogg in Ankara angekommen. Aus türkischen Sicherheitskreisen heißt es: Die beiden halten geheime Gespräche mit russischen und ukrainischen Delegierten ab. Eine Vorbereitung für irgendwas, das irgendwann in Istanbul stattfinden soll? Dort wartet bereits eine russische Delegation. Aber auf wen?

Aus Selenskyjs Kreisen heißt es, der ukrainische Präsident wolle nach seinem Treffen mit Erdoğan entscheiden, ob er nach Istanbul fliege. Russlands Außenminister Lawrow verschärft den Ton in Moskau: Selenskyj sei „erbärmlich“ und werde von externen Akteuren „manipuliert“ und das, was in Istanbul vorgehe, sei eine „Intrige“.

Der ukrainische Präsident zieht sich mit Erdoğan in Ankara zu Gesprächen zurück. In der Zwischenzeit meldet das russische Verteidigungsministerium die Einnahme von zwei weiteren Dörfern in der ostukrainischen Region Donezk. So viel zu einer möglichen Waffenruhe.


Ukrainegipfel: Wolodymyr Selenskyj trifft in der Türkei nicht Waldimir Putin, sondern den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.

Wolodymyr Selenskyj trifft in der Türkei nicht Waldimir Putin, sondern den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.

Nach mehr als zwei Stunden Unterredung in Ankara tritt Selenskyj vor die Presse: „Aus Respekt vor Erdoğan und Trump schicken wir eine Delegation nach Istanbul.“ Angeführt vom Verteidigungsminister Rustem Umjerow. Selenskyj wird nicht mitreisen. Er will am nächsten Tag mit Erdoğan nach Albanien zu einem Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft.

Der russische Delegationsführer Medinski gibt derweil ein Statement in der russischen Botschaft: Er habe alle nötigen Befugnisse und sei auf einer Sondersitzung von hohen Regierungsbeamten und Militärs gebrieft worden. „Wir sind konstruktiv eingestellt und wollen die 2022 in Istanbul von der ukrainischen Seite abgebrochenen Gespräche fortführen.“ Aber wann? Die russische Agentur Tass schreibt „morgen“, andere staatliche Agenturen melden zwei Minuten später: „heute“.

Die Sonne in Istanbul geht gerade unter, einige Journalisten packen genervt ihre Kameras ein, da melden türkische Medien: Die russische Delegation kommt nun doch in den Dolmabahçe-Palast. Wer auch auf dem Weg dorthin ist: Erdoğans Außenminister Hakan Fidan. Der hatte vorher zwei Tage lang in Antalya mit Nato-Amtskollegen beraten. Es folgt ein Gespräch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Danach heißt es aus Quellen des türkischen Außenministeriums: Morgen werde es eine Serie von Treffen geben. Die Formate: USA, Ukraine, Türkei und Russland, Ukraine, Türkei. 


Ukrainegipfel: Vor den Gesprächen mit den Russen trifft die ukrainische Delegation am Freitag den Außenminister der Türkei, Hakan Fidan, und seinen US-Kollegen Marco Rubio.

Vor den Gesprächen mit den Russen trifft die ukrainische Delegation am Freitag den Außenminister der Türkei, Hakan Fidan, und seinen US-Kollegen Marco Rubio.

Freitag, 16. Mai: Und dann reden sie doch

Die russische Delegation bringt wieder Chaos in den Zeitplan. Noch in der Nacht auf Freitag äußert sich Verhandlungsführer Medinski: Ab zehn Uhr Ortszeit werde man auf die ukrainische Delegation warten. In den frühen Morgenstunden scheint der tatsächliche Plan festzustehen. 

Gegen 10.30 Uhr fahren mehrere schwarze und graue Autokolonnen vor dem Dolmabahçe-Palast vor. Ukrainische, amerikanische und türkische Delegationen treffen sich zu Gesprächen. Die Amerikaner verlassen das Gelände, die Ukrainer und Türken bleiben. In seinem Facebook-Profil bekräftigt Umjerow noch einmal die ukrainischen Standpunkte: Frieden sei nur möglich, wenn Russland Bereitschaft zu konkreten Schritten demonstriert: 30-tägige Waffenruhe, Gefangenenaustausch „alle gegen alle“ und eine Rückführung aller aus der Ukraine deportierten Kinder. Russland reagiert nicht.

Um 12.30 sollen die seit 2022 ersten bilateralen Gespräche zwischen den russischen und ukrainischen Delegationen beginnen. In der WhatsApp-Gruppe für mitgereiste Journalisten tauchen zwei Fotos auf. Zwölf Männer aus der Ukraine sitzen auf der linken Seite einer u-förmig angeordneten Tischgruppe, einige tragen Tarnfleck. Am Kopfende stehen je zwei Fahnen der Ukraine, Russlands und der Türkei. Die Russen fehlen noch. Dann das zweite Foto: Auch die Russen sind jetzt da. Der türkische Außenminister sagt einleitende Sätze. Es gebe nur zwei Wege. Der eine führe zu Frieden. Der andere zu noch mehr Zerstörung.


Ukrainegipfel: Die Delegationen Russlands und der Ukraine sprechen rund zwei Stunden miteinander.

Die Delegationen Russlands und der Ukraine sprechen rund zwei Stunden miteinander.

Anschließen wird die Presse nach draußen gebeten. Die Gespräche finden hinter verschlossenen Türen statt.