Ukraine | Wie der Krieg wirklich beendet werden kann

Alle Welt streitet darüber, wie der Krieg mit Russland beendet werden kann: Militärisch oder diplomatisch? Der Politikwissenschaftler Anatol Lieven weiß es

Nichts drängt mehr, als einen Waffenstillstand in der Ukraine zu erzielen, der schlussendlich zu einem dauerhaften Frieden führt. So, wie die Lage sich momentan darstellt, wird die Initiative dazu allerdings wohl leider von Washington ausgehen müssen. Die Europäer sind sich uneins und außenpolitisch zu abhängig von den Vereinigten Staaten, um eigenständig eine wirksame Friedensstrategie verfolgen zu können. Des Weiteren lehnt Osteuropa jeden Kompromiss ab, wodurch die Europäische Union als Ganzes gelähmt wird.

Mitunter erratisch anmutende, widersprüchliche Berichte aus Kiew lassen erahnen, dass auch die ukrainische Politik in der Frage gespalten ist. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat wiederholt erklärt, dass der Krieg durch ein diplomatisches Abkommen beendet werden muss – so wurden die durchaus vernünftigen ukrainischen Friedensvorschläge von Ende März nie zurückgezogen. Andere ukrainische Beamte – unter anderem Außenminister Dmytro Kuleba im Magazin Foreign Affairs – haben wiederum gefordert, der Westen möge der Ukraine zu einem „vollständigen und totalen Sieg“ verhelfen. Die Wut der Ukrainer über die russische Invasion und die mit dieser einhergehenden Gräueltaten ist verständlich – wer würde ernsthaft von ihnen verlangen wollen, mit kühlem Kopf über einen notwendigen Kompromiss nachzudenken? Westliche Politiker und Meinungsmacher, die sicher in Berlin oder Washington sitzen, haben jedoch die Pflicht dazu, genau diesen kühlen Kopf zu bewahren und sich darauf zu besinnen, dass die meisten erfolgreichen Friedensprozesse der Menschheitsgeschichte eine Einigung mit Parteien beinhaltete, die zuvor schreckliche Verbrechen begangen hatten. So handelte etwa die britische Regierung ein Friedensabkommen für Nordirland mit Terroristen aus, die den Cousin der Königin ermordet hatten und bereits planten, den britischen Premierminister zu töten.

Das im Westen vorherrschende Narrativ, das besagt, nur die Ukrainer hätten das Recht, Friedensbedingungen vorzuschlagen, ist dementsprechend weder praktisch noch moralisch sinnvoll. In zahlreichen anderen Konflikten auf der Welt hatten westliche Regierungen keinerlei Hemmungen, anderen Ländern Friedensvereinbarungen vorzuschlagen – und sie in nicht wenigen Fällen sogar zu erzwingen. Des Weiteren haben die Regierungen westlicher Demokratien eine Verantwortung, die weit über die Ukraine hinausgeht. Zuerst tragen sie Verantwortung gegenüber ihren eigenen Bürgern, von denen sie gewählt wurden. In zweiter Instanz sind sie der Welt im Allgemeinen und den westlichen Interessen im Speziellen verpflichtet.

Anatol Lieven ist Senior Fellow am Quincy Institute for Responsible Statecraft und unter anderem Autor des Buches Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry

Der russische Angriffskrieg und die als Reaktion darauf verhängten Sanktionen könnten eine tiefe weltweite Rezession auslösen. In den USA selbst treffen Inflation und Wirtschaftskrise schon jetzt die Armen hart. Bei den Zwischenwahlen scheint es wahrscheinlich, dass die Republikaner einen Sieg davon tragen und so in die Lage versetzt werden, wichtige Gesetzesinitiativen für die absehbare Zukunft blockieren zu können. Aber nicht nur das: Der Krieg in der Ukraine ist auch eine Katastrophe für den Kampf gegen den Klimawandel. Deutschland hat trotz einer Regierung, an der die Grünen beteiligt sind, seinen Kohleverbrauch erhöht, um ausbleibende russische Erdgaslieferungen zu kompensieren.

Je schneller dieser Krieg beendet wird, desto besser geht es der ganzen Welt

Die faktische russische Seeblockade der Ukraine, durch die der hiesige Weizen nicht vollumfänglich exportiert werden kann, und die westlichen Restriktionen des internationalen Zahlungsverkehrs für russische Güter drohen – in Verbindung mit den Auswirkungen der Klimakrise in Indien – zu einer akuten Nahrungsmittelknappheit in vielen ärmeren Ländern zu führen. Wie während des Arabischen Frühlings und des syrischen Bürgerkriegs besteht die Gefahr, dass diese Engpässe zu fundamentaler Instabilität und lokalen Konflikten in bestimmten Regionen der Welt führen. Aus all diesen Umständen folgt eine einfache Erkenntnis: Je schneller dieser Krieg beendet wird, desto besser geht es der ganzen Welt.

Schließlich birgt eine Fortsetzung des Krieges die immense Gefahr einer Eskalation in sich. Sei es, dass Russland versucht, auf westliche Waffenlieferungen mit Angriffen auf Versorgungsrouten zu reagieren. Sei es, dass Russland versucht, US-Interessen in anderen Teilen der Welt zu unterminieren. Sei es, dass Washington einen Stellvertreterkrieg bis hin zur Beteiligung von US-Militärs führt. Oder, dass die USA Putin so weit in die Enge treiben, dass er sein eigenes politisches Überleben gefährdet sieht und entsprechend reagiert. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Kreml absichtlich einen Atomkrieg anzetteln würde, aber die Geschichte lehrt uns, dass in Situationen extremer internationaler Spannungen die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls steigt. Dementsprechend sollte niemals vergessen werden, dass während des Kalten Krieges lediglich die Umsicht eines einzelnen Offiziers eine nukleare Katastrophe verhinderte, die die Welt, in ein flammendes Armageddon verwandelt hätte.

Die fundamentale Herausforderung für jeden Friedensprozess ist so klar wie kompliziert: Wie kann Russland davon überzeugt werden, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, die es seit Beginn der Invasion am 24. Februar besetzt. Denn keine ukrainische Regierung wird je weniger akzeptieren können. Die militärische Verfolgung dieses Ziels jedoch bedeutete für die Ukraine einen jahrelangen Krieg ohne jedwede Aussicht auf Erfolg. Es gibt letztlich wenig Hoffnung darauf, dass die Ukraine durch einen fortlaufenden Krieg mehr erreichen könnte als durch eine baldige Friedensregelung.

Der Fantasterei, die Ukraine könne die Krim und den östlichen Donbass – den Russland de facto seit 2014 hält – zurückerobern, sollte man von vornherein eine Absage erteilen. Der Grund dafür ist simpel: Selbst wenn Russland im Donbass in die Defensive gedrängt würde, könnte seine Artillerie den angreifenden ukrainischen Streitkräften immer noch unvertretbare Verluste zufügen. Die Halbinsel Krim derweil kann von der Ukraine nur dann erobert werden, wenn zuvor die russische Schwarzmeerflotte zerstört würde – durch US-Militär. Und selbst wenn die Ukraine diese Gebiete schlussendlich – mit massiver westlicher Hilfe – zurückerobern könnte, würde ihre Wiedereingliederung in die Ukraine massive Repressionen erfordern, die womöglich in ethnische Säuberungen münden würden.

Russlands Vormarsch steckt fest, nicht einmal der gesamte Donbass konnte erobert werden

Wie also kann die russische Regierung dazu gebracht werden, sich aus den seit Februar besetzten Gebieten zurückzuziehen? Zunächst muss die russische Invasion zum Stillstand gebracht und der Armee so schwere Verluste zugefügt werden, dass eine Fortsetzung der Offensive in großem Stil im Grunde unmöglich wird. Dies ist bereits weitgehend erreicht worden – durch eine Kombination aus westlichen Waffen, ukrainischem Mut und Durchhaltevermögen.

Zum Erstaunen aller Beobachter – mich selbst eingeschlossen – ist es Russland in vier Monaten Krieg trotz beachtlicher Fortschritte im Süden nicht einmal gelungen, den gesamten Donbass zu erobern. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung in der Ostukraine ist zu einem zermürbenden Stellungskrieg um die Kontrolle über eine Handvoll kleinerer Städte geworden, von denen bis vor kurzem außerhalb der Ukraine kaum jemand je etwas gehört hatte.

Mit diesem militärischen Erfolg im Rücken besteht der nächste Schritt darin, Russland etwas anzubieten, das es Putin möglich macht, zu behaupten, dass ein Friedensabkommen zumindest einen gewissen Erfolg für Russland darstellt. Es ist mehr als verständlich, dass es vielen zuwider ist, Putin entgegenzukommen. An dieser Stelle soll jedoch noch einmal daran erinnert werden, dass bis dato jeder erfolgreiche Friedensprozess Kompromisse mit äußerst unangenehmen Zeitgenossen erforderte.

Der Schlüssel zur Problemlösung ist die Rückkehr zu den ursprünglichen Forderungen Russlands – und zumindest dem teilweisen Entgegenkommen durch die ukrainische Regierung, wie schon Ende März. Die erste dieser Forderungen betraf einen Vertrag über die Neutralität der Ukraine. Präsident Selenskyj hat diesen bereits im Grundsatz akzeptiert, wobei er – verständlicherweise – auf die Tatsache verwies, dass sich die NATO-Regierungen, einschließlich der Regierung Biden, im Vorfeld des Krieges bereits wiederholt geweigert hatten, eine NATO-Mitgliedschaft in absehbarer Zeit in Aussicht zu stellen.

Einige Forderungen Russlands sind völlig inakzeptabel, andere nicht

Selenskyj verlangte im Gegenzug, dass Regierungen weltweit – einschließlich aller Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – versprechen, an der Seite der Ukraine in den Krieg zu ziehen, falls eben dieser Vertrag verletzt werden würde. Diese Forderung wurde vom Westen ebenfalls abgelehnt – ein Umstand, der das Versprechen einer künftigen NATO-Mitgliedschaft als völlig leer und scheinheilig erscheinen lässt. Dennoch, es sollte für westliche Diplomaten durchaus möglich sein, eine zufriedenstellende Formel zu finden, indem sie statt einer militärischen Intervention militärische Hilfe – die ja jetzt bereits geleistet wird – und eine Reaktivierung der Sanktionen gegen Russland versprechen.

Die zweite russische Forderung nach einer „Entmilitarisierung“ der Ukraine ist in dieser Form selbstredend völlig inakzeptabel – und so schien selbst Russland im März auch tatsächlich schon von dieser Forderung abzurücken. Diese Forderung könnte in begrenztem Umfang durch ein Verbot von Langstreckenraketen, die tief auf russisches Territorium vordringen könnten, erfüllt werden. Die Regierung Biden hat dieser Forderung auch bereits implizit zugestimmt, indem sie sich weigerte, der Ukraine Raketen mit einer entsprechenden Reichweite zu liefern.

Die russische Forderung nach einer „Entnazifizierung“ der Ukraine ist ebenfalls inakzeptabel und beruht auf einer wahnwitzigen Überhöhung neofaschistischer Kräfte in der Ukraine. Was die ukrainische Regierung und das ukrainische Parlament – ganz unabhängig von russischen Forderungen – tun sollten, ist die Rücknahme der in den vergangenen Jahren verabschiedeten Gesetze, die sowohl die russische Sprache als auch die russische Kultur an sich in der Ukraine diskriminieren. An dieser Stelle sei bemerkt, dass vor allem die russische und russischsprachige Minderheit entgegen der Erwartungen vieler während des Krieges ihre Loyalität zur Ukraine unter Beweis stellte. Dafür gebührt ihr Anerkennung.

Kann die Ukraine in die EU aufgenommen werden?

Die Entwicklung eines bürgerlichen – und nicht etwa eines ethnischen – Nationalismus wird für die Aussichten der Ukraine auf einen Beitritt zur Europäischen Union entscheidend sein. Diese Beitrittshoffnungen haben zwar zum ersten Mal eine reale Chance, aber der Weg dorthin wird lang und beschwerlich werden. Denn wenn die durch die Kriegsleiden hervorgerufene europäische Sympathie für das Land erst einmal abgeklungen ist, wird die Ukraine immer noch auf immense Bedenken vieler Westeuropäer hinsichtlich der dortigen politischen Kultur stoßen. Wie ein EU-Offizieller kürzlich unter vier Augen bemerkte: „Das Letzte, was wir in der EU brauchen, ist mehr Polen, Ungarn und Rumänien.“

Im Übrigen sendet der Westen in dieser Hinsicht ein mitunter verheerendes Signal, wenn russische Kultur diffamiert wird: Tolstoi und Tschechow sind nicht für den Einmarsch in die Ukraine verantwortlich, und Ukrainer, die die beiden weiterhin lesen, signalisieren damit nicht ihre Unterstützung für Wladimir Putin.

Die letzte russische Forderung wirft die Gretchenfrage auf, nämlich die der territorialen Integrität. Es geht um die ukrainische – und westliche – Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim sowie der Unabhängigkeit der Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk – auf dem gesamten Gebiet dieser beiden Provinzen. Was die Krim und die abtrünnigen Republiken in ihrer Form vor dem 24. Februar betrifft, so sollte man anerkennen, dass die Ukraine damit eigentlich nicht wirklich etwas „aufgeben“ muss. Russland hält diese Gebiete seit 2014. Und vor der russischen Invasion war der großen Mehrheit westlicher Experten klar, dass die Krim für die Ukraine de facto für immer verloren war.

Was die beiden Separatisten-Republiken im Donbass betrifft, haben Frankreich und Deutschland ein vernünftiges Abkommen vorgeschlagen, wonach diese vollständig autonome Teile der Ukraine werden sollten. Das wäre nach menschlichem Ermessen die einzige Möglichkeit für die Ukraine, diese Gebiete zu halten. Jedoch weigerte man sich, die Vereinbarung umzusetzen, da befürchtete wurde, dass diese Gebiete als „fünfte Kolonne“ Russlands innerhalb der Ukraine agieren würden. Dies wirft jedoch die Frage auf, warum um alles in der Welt die ukrainische Regierung den östlichen Donbass zurück haben will, wenn sie ihn doch so sehr fürchtet.

Kiew, 25. Februar 2022

Foto: Pierre Crom/Getty Images

Die Vereinten Nationen müssen eingreifen

Der Schlüssel zur Beilegung all dieser Streitigkeiten liegt meines Erachtens einerseits bei den Vereinten Nationen. Und andererseits bei der Achtung der hiesigen Demokratie – die bis dato im übrigen sowohl von Russland als auch vom Westen völlig ignoriert wird. Auf der Krim sollte von den UN ein Referendum über die russische bzw. ukrainische Souveränität organisiert werden. Im Gegenzug sollte Russland einem ähnlichen Referendum im Kosovo zustimmen, wo die überwiegende Mehrheit der Menschen ebenfalls eindeutig die Unabhängigkeit von Serbien befürwortet – ebenso wie die Mehrheit der Krimbewohner eindeutig für die Zugehörigkeit zu Russland ist. Würde Moskau sein Veto aufheben, könnte der Kosovo als Mitglied der Vereinten Nationen aufgenommen werden, was die Gefahr eines weiteren verheerenden Konflikts auf dem Balkan erheblich verringern würde. Das Argument der USA, es gäbe keine Parallele zwischen diesen Fällen, ist legalistische Wortklauberei, wie sogar der derzeitige CIA-Chef William Burns in seinen Memoiren einräumt.

Eine UN-Friedenstruppe sollte auf dem gesamten Gebiet der beiden Separatistengebiete stationiert werden, die eine Kommission flankiert, deren Auftrag die Organisation eines Referendums ist, das den meisten Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht. Dieses Referendum sollte auf Bezirksebene durchgeführt werden. Das wahrscheinlichste Ergebnis dürfte sein, dass sich die meisten Menschen in den separatistischen Republiken, die in den letzten acht Jahren von der Ukraine bombardiert wurden, für die Unabhängigkeit von eben jeder entscheiden werden, während jene Gebiete, die in den letzten vier Monaten von Russland überfallen und verwüstet wurden, weiterhin bei der Ukraine bleiben wollen werden.

Anfang März konnte dieser Krieg noch völlig zu Recht als existenziell für die Ukraine angesehen werden. Der ursprüngliche Plan Russlands bestand eindeutig darin, Kiew einzunehmen und die Ukraine zu einem Marionettenstaat zu machen. Dieser Plan jedoch wurde gründlich vereitelt. Und angesichts der russischen militärischen Verluste und der Unterstützung der Ukraine durch den Westen kann er trotz allen Säbelrasselns nicht ernsthaft wiederbelebt werden. Die Ukraine hat mit westlichem Beistand einen beachtlichen Sieg errungen und ihre Freiheit auf dem Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union gesichert – und die EU, nicht die NATO, ist die wirklich entscheidende Institution, wenn es um die Integration in die westliche Wertegemeinschaft geht.

Der Krieg ist inzwischen zu einem Kampf um lokal doch sehr begrenzte Gebiete in der Ost- und Südukraine geworden – ähnlich, wie man es von anderen postkolonialen Konflikten kennt. Wenn er jemals beendet werden soll, muss dies früher oder später durch eine Art pragmatischen Kompromiss geschehen. Die Interessen sowohl der Ukraine als auch des Rests der Welt fordern, dass dieser Kompromiss so schnell wie möglich angestrebt wird. Und nicht erst nach Jahren des Leids und der Zerstörung, die auch an dem Rest der Welt nicht spurlos vorbei gehen werden.

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