Ukraine-Krieg | Vater und Sohn kämpfen in Bachmut: „Es wäre ein Wunder, wenn wir hier lebend rauskommen“
Als der Krieg in der Ukraine begann, war Viktor Shulik, ein 57-jähriger Schulleiter aus Popasna – einer Stadt in Luhansk, 30 Autominuten von Bachmut entfernt – damit beschäftigt, die Renovierung der Popasna-Schule Nr. 1 zu beaufsichtigen, für die er einen Zuschuss vom Staat erhalten hatte.
Popasna liegt seit 2014 an der Frontlinie und war kurzzeitig von russischen und von Russland unterstützten Truppen besetzt. Acht Jahre lang blickte die Schule auf die Frontlinie und wurde zweimal durch Granatenbeschuss beschädigt. Viktor, seine Frau Valentyna und drei ihrer Kinder, die alle auch Lehrer:innen sind, haben sich jedoch bewusst entschieden zu bleiben, um, wie sie sagen, das Gebiet als Teil der Ukraine zu erhalten.
Viktor lernte Valentyna an der Universität der Stadt Luhansk kennen, wo sie beide Geschichte studierten. Es waren die späten 1980er-Jahre, eine Zeit, in der die ukrainische Geschichte freier diskutiert und studiert wurde. Viktor sei aufgrund seines Studiums immer nationalbewusst gewesen, sagte Valentyna. Sie sagte auch, dass beide großen Wert darauf legten, ihren Schüler:innen ukrainische Geschichte zu vermitteln. Als Popasna im Jahr 2014 besetzt wurde, weigerte sich Viktor, die ukrainische Flagge aus der Schule zu entfernen.
„Er hat immer Dinge initiiert“, sagte Anatolii Beraslavskyi, der Sportlehrer der Schule. „Er änderte das Schulsystem, damit wir Seminare hatten. Er hat die Schule in hellen Farben gestrichen, damit sie nicht mehr grau und trist ist.“
Viktor und Denys treten den Territorialverteidigungskräften bei
Als die Invasion im Februar 2022 begann, waren alle wie betäubt, sagt Dascha, seine Tochter, die Lehrerin für Sonderpädagogik ist. „Die Evakuierungszüge kamen, aber niemand stieg in sie ein, niemand verstand wirklich, was los war.“
Am 2. März lebte die Familie im Flur ihrer Wohnung im achten Stock. Der Artilleriebeschuss war so stark, dass zwischen den Explosionen der Granaten nicht mehr als fünf Minuten Pause lagen, so Dascha. Am zweiten Tag flehte Dascha Viktor an, zu fliehen. „Ich sagte: ,Es ist mir egal, ob sie mich unterwegs umbringen, ich halte es einfach nicht mehr aus.‘“ Dascha sagte zu ihren Eltern: „Schaut euch nur an, ihr werdet die Ersten sein, die abgeholt werden“ – und zeigte auf die Stapel ukrainischer Literatur und Geschichtsbücher, die sie zu Hause aufbewahrten.

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Viktor und sein Sohn Denys, der Sportlehrer ist, gingen hinaus, um das Auto der Familie zu überprüfen. Es war von Granatsplittern getroffen worden und nicht mehr fahrfähig. Ihr zweites Auto hingegen, das sehr alt war, war unversehrt geblieben. Als sie in die Wohnung zurückkehrten, um die schlechte Nachricht zu überbringen, flog ein Granatsplitter durch ihr Fenster im achten Stock, und sie beschlossen, es zu riskieren. „Als wir den Kontrollpunkt Bachmut erreichten, war einer der Reifen platt.“
Aber Viktor und Denys wollten nicht nur fliehen – sie wollten kämpfen. Sie waren nicht die Einzigen in Popasna. Mindestens 16 ehemalige Schüler:innen von Viktors Schule haben sich gemeldet und dienen derzeit in der ukrainischen Armee. Viktor, der mit 57 Jahren zwar eine militärische Ausbildung hatte, aber zu alt war, um in die reguläre Armee einzutreten, und Denys, der keine militärische Erfahrung hatte, sagten, dass sie zusammenbleiben wollten, „weil es dann weniger beängstigend wäre“. So begleitete Valentyna Viktor und Denys am 6. März zum Rekrutierungsbüro der ukrainischen Territorialverteidigungskräfte, einer Art Heimatarmee, in Bachmut. Sechs Monate später würde Viktor tot sein.
„Sie sind gekommen, um uns zu vernichten“
Im Juli traf der Observer Viktor und Denys am Rande von Bachmut. Sie waren drei Meilen von ihrer Stellung auf den Feldern gelaufen. Als studierter Geschichtslehrer und Schulleiter seit mehr als zehn Jahren sprach Viktor über die historischen Gründe für den Einmarsch der Russen. „Krieg ist nichts Neues für uns, aber dies ist der Krieg der Kriege“, sagte er im Schutz der Bäume, die Arme gebräunt von seiner Zeit als Soldat im Freien. „Die Menschen müssen verstehen, dass sie hierhergekommen sind, um uns zu zerstören. Es ist ein Kreislauf der Geschichte.“
Die ukrainischen Territorialverteidigungskräfte, denen sie sich angeschlossen hatten, bestehen aus zivilen Freiwilligen – Buchhalter:innen, Geschäftsleuten, Lehrer:innen – mit wenig bis gar keiner militärischen Erfahrung. Ursprünglich sollten sie in ihren Heimatregionen zur Besetzung von Kontrollpunkten und anderen stationären Positionen eingesetzt werden. Doch seit Juni, als die Ukraine den Territorialverteidigungskräften die Teilnahme an aktiven Kampfhandlungen erlaubte, werden sie zunehmend zur Verstärkung der Front eingesetzt.
In den Monaten nach unserem Treffen im Juli verschlechterte sich die Lage um Bachmut. Der Kampf um die Stadt war der längste und blutigste, was die Zahl der militärischen Opfer angeht, seit Russland vor einem Jahr mit seiner großangelegten Invasion begann. Nachdem es Russland nicht gelungen war, die nördlichen Gebiete der Ukraine, einschließlich der Hauptstadt Kiew, zu erobern, und es dann aus der Region Charkiw im Nordosten und einem Teil der Region Cherson im Süden vertrieben wurde, begann es, seine Kräfte darauf zu konzentrieren, eine Art Sieg in der Region Donbas zu erringen.
Bei ihren Versuchen, das restliche Gebiet zu erobern, sind die Russen Kilometer für Kilometer vorgedrungen, haben mit ihrer überlegenen Artillerie eine Stadt nach der anderen dem Erdboden gleichgemacht und die Ukrainer zum Rückzug gezwungen. Bachmut hätte eine weitere ein- oder zweimonatige Schlacht werden sollen, da es vor 2022 keine Frontstadt war. Aber die Ukraine ist nach eigenen Angaben entschlossen, die russischen Truppen nicht weiter vorrücken zu lassen, bis zu den weiter westlich gelegenen Städten wie Chasiv Yar, Kostiantynivka und Kramatorsk.
Da sie nicht in der Lage waren, eine Gegenoffensive für die Stadt zu starten, starben schätzungsweise Tausende ukrainischer Soldaten bei dem Versuch, in schlammigen Gräben Verteidigungspositionen zu halten und die Russen am weiteren Vormarsch zu hindern. Westliche Offizielle schätzen die russischen Verluste auf 20-30.000. Der stellvertretende ukrainische Verteidigungsminister Volodymyr Havrylov erklärte gegenüber dem Observer, dass die Unterstützung des Westens für die ukrainische Verteidigung zwar von entscheidender Bedeutung gewesen sei, „wir aber zahlen in diesem Krieg mit unserem Blut, mit dem Leben unserer Leute – und das ist, glaube ich, der größte Beitrag“.
Die Zahl der Opfer steigt
Viktor und Denys, die nur unzureichend ausgerüstet und nicht als reguläre Soldaten ausgebildet waren, wurden zusammen mit anderen Einheiten der Territorialverteidigung weiter in das Zentrum der Schlacht geschickt. Am 6. Oktober wurden Viktor und Denys in eine Fabrik am Rande von Bachmut versetzt, nur wenige hundert Meter von den russischen Truppen entfernt. Ihnen wurde gesagt, dass ihre Aufgabe darin bestand, die Fabrik drei Tage lang zu halten, bis die Ablösung eintraf.
Als sie abgesetzt wurden, war es 19 Uhr und es wurde dunkel. Sie sollten die Fabrik durchsuchen und alle Leichen einsammeln, die sie fanden, was sie auch taten. Dann wurden sie angewiesen, die Leichen außerhalb des Werksgeländes, noch näher an den feindlichen Linien, einzusammeln. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits dunkel und sie orientierten sich am Mondlicht. Die Russen entdeckten sie und eröffneten das Feuer. Sie ließen die Leichen – drei Ukrainer und einen Russen – liegen und eilten zurück, um im Keller der Fabrik in Deckung zu gehen.
Aber sie sagten immer wieder zu uns, ,sammelt die Leute ein, sammelt die Leute ein‘. Wir sagten, wir würden sie einsammeln, aber erst am Morgen, wenn es hell ist‘“, so Denys. Er erinnert sich an Viktors Worte, als sie zurück im Keller waren: „Es wäre ein Wunder, wenn wir hier lebend rauskommen“.
Am nächsten Morgen begannen die Russen wieder zu feuern. Ein Artilleriegeschoss schlug in die Kellertür ein, erzählt Denys. „Ein Feuer brach aus, Panik. Zuerst versuchten die Menschen, Tücher zu befeuchten, um durch sie zu atmen. Sie versuchten, einen Weg aus dem Keller zu finden“, sagte er. „Mein Vater war in diesem Moment mitten im Keller, und ich stand direkt am Rand.“

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Denys ging auf die Suche nach seinem Vater und fand ihn, zugedeckt von der Leiche eines anderen Mannes. Viktor erzählte Denys, dass es sich anfühlte, als ob seine Beine über seinem Kopf wären. „Ich zog ihn zum Eingang des Kellers, und dann begann die Munition zu explodieren“, sagte Denys über den Haufen von Granaten und Mörsern, die die vorherige reguläre Armee-Einheit in der Fabrik zurückgelassen hatte. „Die ganze Zeit über hatte der Beschuss nicht aufgehört.“
Zu diesem Zeitpunkt war ihre gesamte Gruppe entweder verwundet oder tot, so Denys, einschließlich seines Vaters. Eine andere Territorialarmee, die sich in der Nähe befand, eilte herbei, um Erste Hilfe zu leisten. Die am schwersten Verwundeten wurden evakuiert, der Rest, darunter auch Denys, wurde zum Warten aufgefordert.
„Wir waren um die Stellung herum verteilt, dann kamen noch mehr Leute“, sagte Denys, der im Keller die erste von mehreren Verletzungen erlitt. Nachdem er den explodierenden Sprengsätzen entkommen war, aber die Leiche seines Vaters zurückgelassen hatte, war Denys völlig desillusioniert. Vor der Fabrik auf dem Boden liegend, zog er kurz seine kugelsichere Jacke und seinen Helm aus.
„Dann begann eine Drohne über uns zu fliegen, und das ist wirklich schlimm, weil sie uns vom Himmel aus sehen und ihre Schusslinie korrigieren können“, sagte Denys. „Nach einiger Zeit sagte jemand, dass die Drohne nicht von uns sei. Sie sagten, wir sollten uns im Gebüsch verstecken, damit sie uns nicht sehen kann.“
Aber die Drohne hatte sie entdeckt, sagte Denys, und neue Artilleriegeschosse wurden abgefeuert. Denys und die Übriggebliebenen zerstreuten sich. Er sprang von einer Rille des Feldes in die nächste – die Gräben und getarnten Stellungen waren zerstört worden.
Denys erlitt eine weitere Wunde am Hals, aber zum Glück war kein Blut zu sehen. Die Wirkung der Wunden löste ein Gefühl der Euphorie aus, und dann stiegen sein Blutdruck und seine Temperatur. Fast 12 Stunden später wurden Denys und die übrigen Männer aus der Fabrik in ein Krankenhaus evakuiert. Viktors Leiche, die einzige, die geborgen werden konnte, wurde zwei Tage später abgeholt. Die übrigen Mitglieder der Einheit, die ums Leben kamen, wurden für vermisst erklärt, so Denys.
Viktors Tod
Denys rief seine Mutter am nächsten Tag aus dem Krankenhaus an, um ihr mitzuteilen, dass er verletzt und Viktor tot sei. „Ich sagte: ,Hör auf, Denys, sag mir das nicht, sag mir, dass das nicht wahr ist‘“, sagte Valentyna.
Viktor hatte Valentyna jeden Morgen von Bachmut aus eine SMS geschickt, die ungefähr so lautete: „Guten Morgen! Alles ist in Ordnung“, erinnerte sie sich. Er rief Valentyna auch an, aber dazu musste er den Graben verlassen und riskieren, von den russischen Truppen entdeckt zu werden. Sie flehte ihn an, das nicht zu tun. An diesem Morgen hatte er ausnahmsweise zugegeben, dass der Morgen nicht so „gut“ war. Weniger als 15 Minuten später war er tot.

Graben gegen die russische Offensive in Bachmut
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„Ich will immer noch mein Telefon holen und ihm [alles] erzählen“, sagt Valentyna. „Ich möchte nur fünf Minuten mit ihm verbringen. Er war nicht nur ein Mensch oder der Vater meiner Kinder – wir dachten auf dieselbe Weise.“
Die Nachricht von Viktors Tod löste bei aktuellen und ehemaligen Schüler:innen eine Welle der Trauer aus, und einige der jüngeren Schüler:innen schickten Valentyna ihr Taschengeld von 50 Griwna (etwas mehr als 1 Euro). Die Spenden waren so willkürlich und zahlreich, dass die Bank die Karte seiner Frau sperrte.
Valentyna, die inzwischen wieder unterrichtet, allerdings online, da ihre Schüler in der ganzen Ukraine und im Ausland verstreut sind, sagte, sie habe zwei Monate lang nicht aufhören können zu weinen, bevor sie Hilfe suchte. Nach der Beerdigung ging sie drei Tage lang nicht zur Arbeit. Ihre älteren Schüler:innen verstanden sie, aber einige der Jüngsten nicht.
„Einer sagte: ,Oh, wir haben dich so sehr vermisst, du warst drei Tage lang weg. Warum bist du so lange weg gewesen? Hattest du keinen Strom?‘ Ich sagte: ,Ja, Kinder, ich hatte kein Licht. Ich hatte gar nichts. Ich konnte nicht mit euch reden.‘“
Denys geht zurück an die Front
Nach dem Vorfall wurde die Einheit von Viktor und Denys, die zu den Territorialen Verteidigungskräften von Bachmut gehörte, mit den Territorialen Verteidigungskräften von Poltawa ausgetauscht, einer Region im Osten der Ukraine, in der es keine Kämpfe gegeben hatte. Innerhalb eines Tages wurden 200 von 500 Angehörigen der Poltawa-Einheit verletzt.
„Sie schrieben uns: ,Jungs, gebt uns einen Rat, irgendetwas, was wir tun sollen, wie wir uns verstecken können?‘ Wir sagten ihnen, dass sie nichts tun könnten. Wir sagten: ,Es gibt Gräben, und wenn wer in den Graben fällt, könnt ihr nichts dagegen tun. Das Schicksal wird entscheiden‘“, sagte Denys.
Denys ist an die Front in der Region Donezk zurückgekehrt, ohne Viktor, und mit schwerem Herzen. Obwohl die Mitglieder der territorialen Verteidigungskräfte Freiwillige sind, sind sie gesetzlich verpflichtet, solange zu kämpfen, bis der Krieg für beendet erklärt wird.
Auf die Frage, wie er sich bei der Rückkehr fühle, erinnerte Denys an ein anderes Mitglied ihrer Truppe, das noch vor seinem Vater gestorben war. Denys sagte, er habe sich immer gewundert, dass der Mann sich nie an die Front gewöhnt habe und auch dann noch aufgesprungen sei, „wenn die Granate 100 Meter entfernt war. Jetzt verstehe ich ihn.“