Ukraine-Krieg | Gegenoffensive: Ukrainische Armee will südliche Provinzen zurückerobern

Aussagen beider Kriegsparteien geben Anlass zur Sorge, dass die Kämpfe in den kommenden Monaten verstärkt werden. Die ukrainische Führung will bis zum Herbst die südlichen Provinzen zurückerobern und Putin an den Verhandlungstisch zwingen

Es würden derzeit operative Pläne entworfen, heißt es aus dem Verteidigungsministerium in Kiew, die sich auf eine Million Soldaten unter Waffen beziehen. Eine Millionenarmee für die Rückeroberung des Südens? Die Planungen klingen von den Ausmaßen her eher utopisch. Bereits bei den augenblicklich eingesetzten Frontverbänden wird regelmäßig auf die mangelnde Ausrüstung und Kampfkraft verwiesen, was sich beides durch westliche Waffenlieferungen offenkundig nur teilweise kompensieren lässt. Die Ankündigung einer Offensive erinnert daher im ersten Moment mehr an eine PR-Aktion, um die ukrainische Bevölkerung für weitere Kampfhandlungen patriotisch mobilisieren und den Westen zu noch größerer Unterstützung animieren zu können. Andererseits warnen russische Kriegsreporter davor, solche Planungen zu ignorieren oder zu unterschätzen.

Vollendete Tatsachen

Das Ziel der ukrainischen Führung scheint es zu sein, noch bis zum Wintereinbruch eine Kriegsentscheidung herbeizuführen oder zumindest derart relevante Fakten zu schaffen, dass Russland zu ukrainischen Bedingungen an den Verhandlungstisch gezwungen werden kann. Der russische Kriegsreporter Wladlen Tatarsky schreibt, dass die andere Seite mit großer Sicherheit in den nächsten Monaten groß angelegte Vorstöße unternehmen werde, um die beiden Schwarzmeer-Provinzen Cherson und Saporischschja zurückzugewinnen. „Wir müssen uns darauf vorbereiten“, verlangt Tatarsky.

Die Aussagen beider Kriegsparteien lassen befürchten, dass es im Spätsommer und Herbst zu einer massiven Zunahme von Kampfhandlungen kommt. Fest steht, Kiew fürchtet den Winter, was verschiedene Gründe hat. Gleich in mehrfacher Hinsicht könnte die kalte Jahreszeit Russland in die Hände spielen, vorrangig aus militärischen Gründen. Zum einen gelten die russischen Streitkräfte traditionell als eher „winterimmun“, sowohl das Personal als auch die Kampftechnik sind auf den harten russischen Winter eingestellt. Der deutlich mildere Winter der ukrainischen Schwarzmeer-Region dürfte für die Invasionsverbände deshalb von den Temperaturen her erst recht keine Herausforderung sein. Ohnehin flachen Kampfhandlungen in Wintermonaten tendenziell zumeist ab. Groß angelegte Operationen gelten dann als problematisch, stattdessen neigen Armeen dazu, sich in dieser Zeit einzugraben. Viel spricht dafür: Die Administration in Kiew rechnet damit, dass die russische Armee die Monate ab Oktober dazu nutzt, die Kontrolle über die eingenommenen Regionen zu konsolidieren und abwehrbereite Befestigungsanlagen derart auszubauen, dass sie danach kaum noch aus diesen Territorien zu verdrängen ist. Überdies erscheint es denkbar, dass sich die dortige Bevölkerung in dieser Zeit endgültig mit den nun einmal geschaffenen Realitäten arrangiert. Es ist bereits eine schleichende Integration in die Russische Föderation zu beobachten. Moskau führt den Rubel ein und hat mit der Ausgabe russischer Pässe begonnen. „Umschulung und Weiterbildung“ werden Lehrern, Polizisten und andere Beamten nahegelegt, damit sie auf russische Verwaltungsstandards umsteigen. In Kiew wächst die Sorge, dass dieser Prozess während der Winterpause so weit voranschreitet, dass ein mentaler „point of no return“ erreicht wird.

Außerdem drohen aus ökonomischer Sicht im Winter die Probleme der Ukraine zu eskalieren, was viel mit einer absehbar defizitären Energieversorgung für Betriebe und Haushalte während der Heizsaison und den weggebrochenen Exporten zu tun hat. Um über die kalte Jahreszeit zu kommen, wäre die Ukraine auf einen Energietransfer aus dem Westen angewiesen. Ob der freilich angesichts akuter Defizite bei der Deckung des eigenen Bedarfs noch über freie Kapazitäten für ukrainische Abnehmer verfügt? Die EU-Staaten müssen ihre eigene Energiekrise bewältigen und können – wenn überhaupt – Kiew nur mit symbolischen Aktionen unter die Arme greifen. Jedenfalls ist das Land auf seine Schwarzmeer-Häfen angewiesen, um ganzjährig Waren auszuführen. Doch sind diese Häfen entweder von russischen Kräften besetzt oder durch verminte Seewege blockiert, sodass Schiffe weder ein- noch auslaufen können. Eine baldige Rückeroberung wenigstens einiger Verladeterminals stellt sich für Kiew als „überlebenswichtig“ dar, damit die Wirtschaft nicht kollabiert. Sollte bis zum Wintereinbruch der militärische Status quo fortbestehen, ist für die ukrainische Ökonomie der Kollaps programmiert, was Konsequenzen für die Gefechtsstärke an allen Fronten hätte.

Schließlich droht in Europa, und erst recht darüber hinaus, das Interesse am „Ukraine-Thema“ zu schwinden, je länger die Kampfhandlungen dauern. Bereits jetzt beschweren sich ukrainische Politiker über eine virulente „Kriegsmüdigkeit“, die sich in westlichen Gesellschaften bemerkbar mache. Was durchaus zutrifft, wenn soziale Zerreißproben durch eine hohe Inflation und exorbitant steigende Energiepreise den EU-Staaten zusetzen und um den inneren Zusammenhalt fürchten lassen. Nicht auszuschließen, dass Gegenmaßnahmen getroffen werden müssen, die nicht im Interesse der Ukraine liegen. Wer weiß schon, ob nicht der Ukraine-Krieg für das europäische und amerikanische Publikum temporär oder für länger aus dem medialen Fokus entschwindet. Ein „vergessener Konflikt“, wie die seit Jahren andauernden Kriege im Jemen oder in Libyen, dürfte der Kampf um die Ukraine allein schon wegen ihrer geografischen und kulturellen Nähe zu Europa nicht werden, aber das Ranking bei den Partnern im Westen kann sich verändern. Aus all diesen Gründen warnte Staatschef Wolodymyr Selenskyj Ende Juni während einer Zuschaltung zum G7-Gipfel in Deutschland energisch vor einem Verdrängen des Konfliktes. Man brauche jetzt mehr militärischen Beistand und nicht erst 2023, um die russische Armee noch vor dem Winter zurückzudrängen. Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, bestätigte jüngst die „ukrainische Message“. Kiew dränge darauf, „in den nächsten Monaten statt in den nächsten Jahren“ Fakten auf dem Schlachtfeld zu schaffen. Ein langer Konflikt sei „aus offensichtlichen Gründen nicht im Interesse des ukrainischen Volkes“.

Aber die Zeit läuft im Moment für den Kreml – das scheint man in Kiew, Moskau und Washington übereinstimmend so zu sehen. Um dies zu ändern, wird die ukrainische Armee im Herbst so gut wie alles auf eine militärische Entscheidung zu ihren Gunsten setzen. Die Erfolgschancen lassen sich gegenwärtig nur schwer abschätzen.

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.