Ukraine: In meinem Raum der Schuld
In meinem Raum der Schuld – Seite 1
Anfang des Jahres
wurde im Süden der Ukraine ein Städtchen beschossen, zum wiederholten Mal. Die
russischen Raketen trafen ein altes Lager, in dem noch Raketen und Sprengsätze
aus sowjetischer Zeit gelagert wurden. Die Detonation war von solch einer
Wucht, dass Fensterscheiben zerschellten, Dächer von den Häusern flogen.
Augenblicklich. Ernsthaft verletzt wurde zum Glück und wundersamerweise
niemand, aber dennoch lässt mich die Vorstellung nicht los: Von jetzt auf
gleich ist jedes Haus im Umkreis unbewohnbar.
Das Städtchen heißt
Otschakiw. Es ist eine Kleinstadt mit etwa 14.000 Einwohnern am Schwarzen
Meer, mit einem Museum für Militärgeschichte und einem für die maritime
Malerei, ein paar Hotels und einem Aqua-Park, der online mit Bildern glücklicher
Familien um Besucher wirbt. Freunde von mir sind zuletzt regelmäßig dorthin gefahren und haben übergeben,
was sie in Deutschland an Spenden gesammelt haben: Decken, Schlafsäcke,
Trockensuppen, Medikamente. Ich hingegen sitze in meiner warmen Wohnung in
Berlin und halte das Telefon in der Hand – ist es schon Doomscrolling oder
informiere ich mich nur? Ich bin ein pragmatischer Mensch und deshalb schnell
dabei, konkret zu werden, indem ich helfen will. Seit dem Beginn des Krieges
habe ich unzählige Gelegenheiten dazu gehabt, einige auch genutzt.
Durch Helfen oder Helfenwollen nehme ich Anteil an etwas, das ich nicht abwenden konnte, wofür
ich persönlich nicht verantwortlich bin – und wogegen ich scheinbar nichts oder
sehr wenig unternehmen kann. Dass so viele meiner Landsleute jetzt ohne Sprache
und ohne Netzwerke hier sind, dass die Jobcenter und Sozialämter konstant überfordert
sind, dass es in der Ukraine nicht genug künstliche Nahrung gibt, für zerstörte
Körper, die im Akutfall nicht anders ernährt werden können, dass es an diesen
unverschämt teuren Vakuumpumpen mangelt, die die Heilung der Wunden
beschleunigen. Dass das Krankenhauspersonal die Plastikkanister und Schläuche,
die von westlichen Herstellern zum einmaligen Gebrauch bestimmt sind, auskocht
und wiederverwendet, weil es nicht genug davon gibt. Und dass ich, nach 16
Jahren Regierungszeit von Angela Merkel, auf den Berliner Hauswänden “Nicht
unser Krieg” lesen muss. Wem kann ich da und womit helfen? Oder andersherum –
wie kann mir geholfen werden?
Als Künstlerin fühle
ich mich schuldig für meine Welt. Ich empfinde eine echte Trauer über die
eigene Ohnmacht, einfach weil mein Alltag seit einem Jahr in unmittelbarer Nähe
zur Angst, zum Tod und zur Zerstörung stattfindet, weil meine Lebenszeit mit
der Lebenszeit anderer Menschen zusammenfällt und Verbrechen und
Ungerechtigkeiten, die zu meinen Lebzeiten passieren, für mich unter den
moralischen Imperativ der Mitschuld fallen, entsprechend meinem Versagen, eine
Katastrophe nicht abgewendet zu haben und sich nun zu ihr verhalten zu müssen.
Die Vorstellung von einem Raum der Schuld kommt ursprünglich von Alexander Rastorgujew, einem großartigen russischen Dokumentarfilmregisseur, der 2018 während
des Drehs für einen Film über Wagner-Truppen in Zentralafrika erschossen wurde.
Sie bindet zwei ungleiche Maßeinheiten aneinander – die des Raumes mit der
eines noch abstrakteren moralischen und seelischen Erlebens. In diesem Raum
wiegen Scham und Schuld schwerer als Verantwortung, die in unserer therapieaffinen
Welt stets noch eine Handlungsoption offen hat. Sie kann erst dann übernommen
werden, wenn die Schuld eingestanden ist, wenn es einen Konsens gibt, wenn der
Täter, mit seinem Verbrechen konfrontiert, eine Strafe erfährt, wenn Richter
gesprochen haben. Andrii Portnov, ein ukrainischer Historiker, meint gar,
Russland brauche eine Schuldkultur.
Schuld scheint endgültig und auch zeitlos zu sein. Sie ist nicht zu ersetzen
durch Wiedergutmachung. Sie ist recht ungemütlich und kann lediglich erkannt
werden, sagt Marci Shore, eine US-amerikanische Historikerin. Und sie hört nicht auf zu existieren, wenn sich der
Lebensmittelpunkt verlagert. In diesem, meinem eigenen Raum der Schuld lebe
ich, durch ihn und aus ihm sehe ich in die Welt, formuliere meine Fragen und
suche nach Antworten.
Seit Raketen in regelmäßigen Zeitabständen
auf die Ukraine abgefeuert werden, habe ich auch die Option, ein Opfer zu sein,
von dem inzwischen allerdings auch die meisten nur noch genervt sind, weil es
laut leidet und alle um Geld und um Unterstützung bittet. Doch auch wenn ich
diese Rolle des Opfers ablehne, die auf mich projiziert wird, mache ich mich
schuldig: Ich lehne zugleich einen Teil meiner selbst ab; denn meine Heimat ist
ja tatsächlich ein Opfer, unter anderem der deutschen Sicherheits- und
Energiepolitik, die nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im
Osten des Landes 2014 trotzdem noch Nord Stream 2 auf den Weg gebracht hat. Und
die Raketen, die auf Ukraine abgefeuert werden, die gelten auch mir.
In der fast vollständig zerstörten Stadt sehe ich Familien,
Kinder, ältere Menschen, die fassungslos in Ihren verwüsteten Wohnräumen stehen
und nicht weiterwissen. Denn diesmal ist es anders. Bei früheren Beschüssen gab
es drumherum noch andere, die diesmal heil geblieben waren, es gab
Nachbarn und Verwandte und Freunde, die einen vorübergehend aufnehmen und ein wenig
Trost spenden konnten. Jetzt befinden sich alle gleichzeitig in dieser
schlimmen Lage, ohne Strom und Wasser, im Winter in einer windigen Hafenstadt.
Die Bilder von
zerstörten Wohnungen in der Ukraine überlagern sich mit der Verwüstung, die Erdbeben
in der Türkei und in Syrien angerichtet haben. Die Fassungslosigkeit und
Ohnmacht angesichts dieser Tragödie, das nach außen gekehrte, ausgeschüttete
Innere, die erstbesten Worte, um das Unbegreifliche zu fassen, die Suche nach
Schuldigen. Die Entwertung, die innerhalb von Sekunden passiert – alles mühevoll
Arrangierte, Organisierte, Beschaffene, Geerbte, Aufgehobene und eigens
Gekaufte, das Private, hinter der Tür Verschlossene, in Sicherheit Gewähnte – zerfällt
unwiederbringlich, vergeht und wird in diesem Vergehen noch für die Blicke
aller festhalten, preisgegeben, landet auf meinem iPhone-Screen, flitzt über
meine Netzhaut, wird mittels Spiegelneuronen für meinen Körper übersetzt, setzt
sich fest, wird abgelagert, überschrieben.
Widersprüche bleiben
In diesem Jahr
ist meine Empfänglichkeit für das Leid und Unglück anderer gewachsen, so als ob
meine Wahrnehmung allem Hellen und Positiven misstraut, es vorsorglich
herausfiltert, um die Amplitude der Empfindsamkeit zu mindern, die Fallhöhe zu
reduzieren. Bis zum nächsten Einschlag. Hyperaktivität nach außen, und eine
langsame Schmelze im Inneren. Jeder muss sich vermutlich an etwas festhalten,
wenn die Welt um einen herum seit einem Jahr bebt und auch einstürzt. Und doch
ist das Einstürzen meiner Welt nur entfernt vergleichbar mit der physikalischen
Vernichtung, die so vielen gerade widerfährt. Ich halte mich am Helfen fest.
Ich denke über die Zerstörung der Wohnungen
und Häuser der Menschen nach. Was macht es mit denen, die bleiben und die
weiterleben müssen? Dabei ist die Erfahrung, alles zu verlieren, alles andere
als neu. Die Geschichte der Ukraine reicht Jahrhunderte zurück, Jahrhunderte
der Plünderungen und Verwüstungen, in denen starke Menschen Schwache
versklavten und ausbeuteten. Auf den Trümmern wagten jene, die überlebten, den
Wiederaufbau: Kopfkränze und Halsketten flechten, Socken stricken, ihre Kleider
nähen und Blusen kunstvoll besticken, säen, ernten und Häuser errichten, die
nun in Schutt und Asche gelegt werden. Eine meiner Kiewer Freundinnen hat Land
geerbt, was sie noch vor dem Krieg verkaufen konnte, um ein paar Wohnungen zu
kaufen. Für die breite Masse der Bevölkerung allerdings gab es in meiner Heimat
nie viel zu vererben. Es wird noch sehr lange dauern, bis in der Ukraine, die formal zu den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gehört, mit ähnlicher Leidenschaft über die Erbschaftssteuer diskutiert werden kann, wie es in Deutschland getan wird, das den Zweiten Weltkrieg verloren hat.
Die schönen Ohrringe, an die sich meine
Mutter noch erinnert, wurden für billiges Geld verkauft, um die Hochzeit meiner
Eltern auszurichten. Wir haben keine Ohrlöcher, es gibt Schlimmeres. Die
Zweizimmerwohnung, in der ich geboren und später groß geworden bin, hat meine
Familie nach Jahrzehnten des Wartens Anfang der 1970er vom Staat bekommen. Die
Lebensleistung dieser Generation, ihre Opfer und Überlebenskampf wurden damit
vom sozialistischen Staat gewürdigt. Meine Oma kehrte 1945 aus Slatoust hinter
dem Uralgebirge zurück in das völlig zerstörte Kiew, hat in einer Kellerwohnung
zwei Söhne großgezogen, ihnen ein Studium und Bildung ermöglicht. Ein Klavier
und ganze Bücherwände vererbt, Tischgeschirr, ein wenig Silberbesteck mit
deutschen Gravuren, Wiener Stühle. Zeit zum Musizieren oder Lesen hatte meine
Oma sicher nicht gehabt, dafür im Alter einen Buckel und schlimme Rückenschmerzen.
Heute gibt es zahlreiche Städte in der Ukraine, in die man nicht mehr zurückkehren
kann. In denen von den Wohnungen und ihren Eigentümern nur die Schlüssel
geblieben sind, die sie an die Baumstämme nagelten, bevor sie ihre Ruinen
verlassen haben. In der deutschen Parallelrealität, keine 2.000 Kilometer weit weg,
diskutiert man seit einem Jahr über Panzerlieferungen. In der Schweiz werden gar Raketen verschrottet und die Weitergabe der gekauften Munition an die Ukraine untersagt.
Wenn Krankheiten und Armut vererbt werden können,
können Zerstörung und Krieg auch weitergegeben werden? Ukrainische Soldaten,
die an der Front sind, schreiben auf Twitter, dass sie das Tötenmüssen von
russischen Soldaten nicht an ihre Kinder vererben wollen. Und kann man
umgekehrt Sicherheit vererben? Territoriale, familiäre, ökonomische? Jene
Absicherung, die jegliche Erbschaft mit sich bringt, jene Sicherheit, die eine
Herkunft aus einem Rechtsstaat bietet, der es sich leisten kann, Kriege vom
eigenen Territorium fernzuhalten und Opfer beispielsweise einer Überschwemmung
entsprechend zu entschädigen? Meint “Das ist nicht unser Krieg” auch dieses
eskapistische “Privileg”?
Andererseits ist
es, vom Rest der Welt aus betrachtet, gerade das Sicherheitsversprechen
Europas, welches das Leben hier sogar ohne materiellen Reichtum besonders
lebenswert macht, während an so vielen anderen Orten Krieg herrscht, die Erde bebt,
brennt und überschwemmt wird. Ökologisch betrachtet ist es wohl nur eine Zeit-,
keine Glaubensfrage mehr. Oder doch eine grundsätzliche Frage der Perspektive?
Schließlich kann Europa nicht alle Erniedrigten und Beleidigten aufnehmen, die
nolens volens für die Kehrseite des hiesigen Lebensstandards bezahlen müssen
und deshalb ihre Heimaten verlassen.
Der viel und zu
Recht kritisierte kapitalistische deutsche Staat zahlt immerhin Aufenthalt und Behandlungen
ukrainischer Geflüchteter und Soldaten. Er übernimmt Fürsorge, wo sie der
ukrainische Staat seinen Bürgern gegenüber nie in dieser Form hätte leisten können.
Er liefert, wenn auch viel zu spät, seine Wunderwaffen, und meine Freunde
spenden viel Geld, damit teure medizinische Ausrüstung eingekauft werden kann.
Dieser Widerspruch kann vermutlich nicht aufgelöst werden, es gilt ihn wohl zu
ertragen.
Und auch dieser
Widerspruch bleibt: Einerseits
ist für mich der Krieg seit 2014 längst verloren, weil Kinder entführt und
deportiert, Familien zerrissen, Menschen gefoltert und getötet wurden und all
das keine imaginierte und freie Ukraine der Zukunft rechtfertigen kann.
Andererseits leben noch so viele Menschen und für sie muss ihn die Ukraine
gewinnen.