Twitter: „Elon Musk hat Twitter nicht verstanden“

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Seit Elon Musk den Kurznachrichtendienst übernommen hat, droht das beliebte soziale Netzwerk im Chaos zu versinken. Mit diesen Prozessen beschäftigt sich Ulrike Klinger, Professorin für Digitale Demokratie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

ZEIT ONLINE: Frau Klinger, seit Elon Musk Twitter übernommen hat, geht es auf der Plattform turbulent zu: Abrissparty oder Chaostage, so lauten die Schlagzeilen. Ist die Twitter-Ära jetzt vorbei?

Ulrike Klinger: Twitter wird sich nicht so bald auflösen oder vom Netz gehen. Aber was wir wohl gerade erleben, ist das Ende von Twitter, wie wir es kannten. Es wird noch toxischer, es wird viel mehr Spam und Fake-Accounts geben. Was da passiert und in welcher Geschwindigkeit, ist atemberaubend. Es gibt ein Bündel an Problemen: Ganze Communitys verlassen Twitter, es offenbaren sich finanzielle, technische und rechtliche Probleme. Ich war schon sehr pessimistisch, als Musk die Plattform übernommen hat, weil ich glaube: Er hat sie nicht verstanden.

ZEIT ONLINE: Was versteht er nicht?

Klinger: Technische Fragen zum Beispiel. Vieles bei ihm klingt stark nach Bauchgefühl. Etwa die Debatte zu den Bots, die er angestoßen hat: Er wollte 100 zufällige Accounts untersuchen, um zu sehen, wie viele davon automatisiert sind. Als ob das so einfach wäre! Auch seine unternehmerische Herangehensweise wirft Fragen auf: Er benimmt sich, als wäre Twitter ein Start-up, das noch kein richtiges Businessmodell hat. Dabei war Twitter schon ein etabliertes Aktienunternehmen. Er hat nicht verstanden, dass es bei Twitter weniger um eine technische Infrastruktur geht als um eine Community.

ZEIT ONLINE: Die Community wehrt sich aktiv. Es ist eine offene, fast anarchische Auseinandersetzung über die Frage, was Twitter ist und eigentlich sein soll. Musk wird angefeindet, und er pöbelt zurück. Das ist doch irre, oder?

Klinger: Er pöbelt ja nicht nur Nutzerinnen an, sondern auch Werbetreibende oder einen US-Senator, der in den Ausschüssen sitzt und Social Media reguliert. Es gibt aber nicht nur die eine Community. Hier treffen ganz unterschiedliche Gruppierungen aufeinander. Für viele wäre es schwierig, Twitter zu verlassen und dann ein neues Netzwerk aufzubauen. Gerade für solche, die nicht dominant sind. Black Twitter zum Beispiel hat lange gebraucht, sich solch riesige Reichweiten zu erarbeiten. Oder auch Frauen, die politisch aktiv sind – und einzeln marginalisiert werden oder extrem viel Hass ausgesetzt sind, haben wichtige und schlagkräftige Netzwerke auf Twitter aufgebaut.

ZEIT ONLINE: Hass und Häme gab es bei Twitter ja schon, bevor Musk kam …

Klinger: Stimmt. Man darf Twitter nicht nostalgisch sehen. Viele Nutzerinnen sind mit Twitter in einer leidenschaftlichen Hassliebe verbunden. Es war immer schon ein sehr rauer, harter Ort. Und: Plattformen wie Twitter sind intransparent – sie teilen die Daten nicht, wir wissen nicht, wie ihre Algorithmen funktionieren. Dabei findet ein großer Teil unserer gesellschaftlichen Kommunikation auf diesen Plattformen statt.

ZEIT ONLINE: Kann Musk Twitter dann noch verschlimmern?

Klinger: Er hat diese Vorstellung von free speech. Alle Plattformen haben im Grunde so angefangen: Man darf alles schreiben. Community-Regeln sind erst im Laufe der Zeit entstanden – auch deshalb, weil Firmen und Werbetreibende in einem seriösen Umfeld auftreten möchten. Außerdem haben wir die Zeit des Wilden Westens hinter uns gelassen. Zumindest in Europa gibt es eine Gesetzgebung, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), Datenschutzrichtlinien, gar nicht zu reden vom Digital Services Act, der jetzt kommt. Eine Plattform, die so groß ist wie Twitter, muss sich natürlich daran halten. Auch hier wird Musk Ärger bekommen und möglicherweise heftige Bußgelder zahlen müssen.

ZEIT ONLINE: Kann er strafrechtlich belangt werden, und was hieße das? Müsste er dann Bußgelder zahlen, würde er gesperrt, was wäre denkbar? 

Klinger: Ich denke, es geht vor allem um heftige und sich wiederholende Bußgelder.

ZEIT ONLINE: Sollte man als Nutzer Twitter jetzt verlassen? Wie halten Sie es persönlich?

Klinger: Ich nutze Twitter zwar weiterhin, aber habe vieles gelöscht, zum Beispiel Direktnachrichten oder Tweets, bei denen ich selbst zu sehen bin. Keiner weiß, wer jetzt Zugang zu den Daten hat. Viele Mitarbeiter von Twitter wurden entlassen oder haben gekündigt; darunter auch solche, die sich um die Datensicherheit gekümmert haben.

ZEIT ONLINE: Wichtig war Twitter bisher auch für die politische Kommunikation. Trotzdem haben sich viele deutsche Spitzenpolitiker zuletzt zurückgezogen, von Kevin Kühnert bis Jens Spahn. Tun sie sich damit einen Gefallen, oder beschneiden sie damit nur ihre Reichweite?

Klinger: Twitter hatte im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken nie so viele Nutzer in Deutschland. Es war immer eine Art Nischenplattform, in der Eliten-Kommunikation stattfindet. In Bezug auf die Reichweite ist Facebook relevanter als Twitter. Aber wenn man sich für Politik interessiert, ist die Plattform alternativlos. Twitter ist kein Ort für Schminkvideos. Hier geht es um Gesellschaft und politische Konflikte.

ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass sich nun andere Portale durchsetzen können? Manche wechseln jetzt zu Mastodon.

Twitter macht süchtig. Das gelingt Mastodon noch nicht

Klinger: Mastodon ist anders als Twitter, in mancher Hinsicht viel besser.

ZEIT ONLINE: In welcher?

Klinger: Eigentlich gibt es hier jene free speech, die Elon Musk vorschwebt. Es gibt keine verbindlichen Regeln, jeder Server, jede Community kann selbst festlegen, wie man kommunizieren will. Allerdings ist unklar, was passiert, wenn diese Plattform immer größer wird. Ab zwei Millionen Nutzerinnen greift das NetzDG. Dann kommen ganz andere Fragen: Wer ist zuständig? Muss man nicht doch verbindliche Regeln finden?

ZEIT ONLINE: Noch wirkt Mastodon etwas sperrig und unzugänglich.

Klinger: Ja, es ist gewöhnungsbedürftig, weil es eben nicht diesen Algorithmus wie bei Twitter gibt, der einem die Timeline vorsortiert. Wenn man sich nicht aktiv vernetzt mit Leuten und Hashtags folgt, dann ist da echt nichts los. Twitter macht süchtig. Das gelingt Mastodon noch nicht.

ZEIT ONLINE: Ein Akademikernetzwerk?

Klinger: Tatsächlich ist es für Akademiker relativ einfach, Twitter zu verlassen, da sind schon viele bei Mastodon. Bisher war Academic Twitter wichtig, um sich zu vernetzen und Studien zu verbreiten. Twitter selbst ist ja auch ein Forschungsgegenstand. Es gibt eine Datenschnittstelle für Wissenschaftlerinnen. Ich weiß nicht, wie lange das bei Twitter noch funktioniert. Arbeitet dort überhaupt noch jemand? Ist da noch ein Team? Die Pressestelle beantwortet zumindest keine Anfragen mehr. Die Führungsebene ist weg.

ZEIT ONLINE: Sehen Sie Alternativen, die an die Stelle von Twitter treten könnten?

Klinger: Es ist schwierig. Manche haben spaßeshalber vorgeschlagen, wir könnten jetzt einfach alle eine große WhatsApp-Gruppe gründen. Aber so funktionieren soziale Medien nicht. Es kann sein, dass andere Plattformen davon profitieren und zum Beispiel Facebook noch einmal auflebt oder manche zu TikTok wechseln.

ZEIT ONLINE: Erwarten Sie eine Atomisierung oder Versäulung der politischen Kommunikation? Linke Akademiker gehen zu Mastodon, Rechte zu Portalen wie Trumps Truth Social?

Klinger: Das glaube ich nicht. Denn viele Institutionen, Politikerinnen, Parteien, Regierungsorganisationen, die wollen ja möglichst viele Menschen erreichen. Sie werden dorthin gehen, wo die meisten Leute sind. Noch nicht einmal in den politischen Extremen war diese Fragmentierung bisher erfolgreich. Nur Selbstbestätigung ohne Gegner  – das wäre langweilig.