Trotz Freispruch vor Gericht? Karlsruhe prüft Neuregelung

Verfassungsgericht Trotz Freispruch vor Gericht? Karlsruhe prüft Neuregelung

Ein Mord aus dem Jahr 1981 beschäftigt heute das Bundesverfassungsgericht - es geht um Grundsätzliches. Foto: Uli Deck/dpa

Ein Mord aus dem Jahr 1981 beschäftigt heute das Bundesverfassungsgericht – es geht um Grundsätzliches. Foto

© Uli Deck/dpa

Darf jemand für dasselbe Verbrechen mehrfach angeklagt werden? Hintergrund ist der gewaltsame Tod einer Schülerin im Jahr 1981. Mit dem Fall hat sich nun das Bundesverfassungsgericht befasst.

Mehr als 40 Jahre liegt der Mord an der Schülerin Frederike aus Niedersachsen zurück, ein Täter ist bis heute nicht dafür verurteilt. Einen Verdächtigen gibt es zwar seit Jahrzehnten, doch er wurde freigesprochen. Eine Gesetzesreform ermöglicht es, ihm auf Basis neuer Erkenntnisse noch einmal den Prozess zu machen. Die Neuregelung ist allerdings heftig umstritten und hat am Mittwoch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Frederikes Schwester richtete dabei über ihren Anwalt emotionale Worte an den Zweiten Senat.

„Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte“, sagte der ehemalige Bundesanwalt Wolfram Schädler im Namen seiner Mandantin, die nicht nach Karlsruhe gekommen war. Jahrelang hatte Frederikes Vater für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180 000 Menschen unterschrieben. Der Kampf sei mit dem Tod ihres Vaters nicht vorbei, ließ Frederikes Schwester vortragen. Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger. Die Familie hoffe auf Ruhe.

Ist die Neuregelung verfassungskonform?

Doch so schmerzhaft die Tat für die Angehörigen des Opfers noch immer sei, so sehr sie die Öffentlichkeit nach wie vor bewege, müsse sie angesichts davon losgelöster verfassungsrechtlicher Fragen in den Hintergrund treten, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König.

Denn das höchste deutsche Gericht will prüfen, ob die Neuregelung verfassungskonform ist. Es gehe um den Grundsatz im Grundgesetz, dass niemand wegen derselben Straftat mehrmals bestraft werden darf, erklärte König. Vor allem werde es darum gehen, ob das Verbot mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang abgewogen werden könne oder „abwägungs- und damit änderungsfest“ sei. So müsse etwa geklärt werden, ob ein Freispruch von dem Grundsatz umfasst sei, erklärte Richterin Astrid Wallrabenstein.

Die Änderung der Strafprozessordnung (Paragraf 362) war Ende 2021 in Kraft getreten, beschlossen zu Zeiten der großen Koalition von Union und SPD im Bundestag. Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen – etwa bei einem Geständnis.

Seit der Reform geht das auch, wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel“ auftauchen. Die Regelung ist auf schwerste Verbrechen wie Mord oder Völkermord beschränkt, die nicht verjähren.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte beim Ausfertigen des Gesetzes angeregt, dieses wegen verfassungsrechtlicher Zweifel „einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen“. Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte nach dem Regierungswechsel im Bund dafür plädiert, es noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Sonst stünde jeder Freispruch unter Vorbehalt.

Als Bevollmächtigte der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und SPD erklärten die Strafrechtsprofessoren Michael Kubiciel und Elisa Hoven, die Neuregelung sei auf absolute Ausnahmen beschränkt. Hoven bezeichnete sie als „sehr restriktiv“. Die neuen Beweise oder Tatsachen müssten besondere Relevanz haben, betonten die Fachleute. Nicht jedes Beweismittel führe zu einer Wiederaufnahme.

Ob ein neuer Fakt für einen Schuldspruch reiche, lasse sich aber erst am Ende eines Prozesses sagen, nicht vorher, entgegnete Strafrechtler Erol Pohlreich als Bevollmächtigter der Fraktionen von Grünen und FDP – damals in der Opposition. Der Preis für die Betroffenen sei ein neuer Prozess, den sie schon einmal durchlaufen hätten, und womöglich ein Fehlurteil. „Dieser Preis ist zu hoch“, betonte der Professor.

Risiko eines „falschen Freispruchs“

Zugleich machte Pohlreich klar: „Das Gesetz wird auch Unschuldige umfassen. Und das nicht zu knapp.“ Angesichts der damit verbundenen Folgen sei es besser, im Zweifel neun Schuldige davonkommen zu lassen als einen Unschuldigen noch einmal vor Gericht zu stellen.

Im Fall Frederike wird ein Mann verdächtigt, 1981 die 17 Jahre alte Schülerin aus Hambühren bei Celle vergewaltigt und erstochen zu haben. Damals konnte ihm das nicht sicher nachgewiesen werden. Erst wurde er verurteilt, legte erfolgreich Revision ein und wurde 1983 letztendlich rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Nach einer neueren Untersuchung von DNA-Spuren könnte er aber doch der Täter sein. Im Februar 2022 wurde er erneut verhaftet, im August hätte eigentlich am Landgericht Verden der Prozess beginnen sollen. Doch das Bundesverfassungsgericht verfügte kurz zuvor die Freilassung des Mannes. Er kam aus der Untersuchungshaft und bleibt unter Auflagen auf freiem Fuß, bis der Senat über seine Verfassungsklage entschieden hat. Das wird erst in einigen Monaten erwartet.

Der Rechtsanwalt des Mannes, Johann Schwenn, sagte in der Verhandlung deutlich, die Neuregelung sei verfassungswidrig. Die Menschen sollten nicht mit dem Risiko eines „falschen Freispruchs“ leben müssen. Sein Kollege Yves Georg sprach von einer Gefahr, dass das Gewaltmonopol des Staates angezweifelt werden könnte.

dpa

Source: stern.de