Todesstrafe im Iran: „Mein Vater braucht keine Zahnpasta. Sein Leben muss gerettet werden“

„Mein Vater braucht keine Zahnpasta. Sein Leben muss gerettet werden“ – Seite 1

Gazelle Sharmahd ist die Tochter des Deutschiraners Jamshid Sharmahd. Der Regimegegner ist im Februar 2023 von einem Gericht in Teheran zum Tode verurteilt worden, wegen „Korruption auf Erden“. Sie kämpft unter #SaveSharmahd für seine Rettung.

ZEIT ONLINE: Ihr Vater wurde am 21. Februar 2023
vom iranischen Regime zum Tod verurteilt. Am 1. August 2020 haben Sie von seiner
Inhaftierung erfahren. Ein Video von ihm wurde im iranischen Staatsfernsehen veröffentlicht.
Können Sie sich an diesen Moment erinnern?

Gazelle Sharmahd: Ich war damals im fünften
Monat schwanger. Meine dritte Schwangerschaft, ich hatte schon zwei verloren, deswegen
waren wir sehr vorsichtig. An dem Tag hatte ich frei. Mein Mann hat mich
geweckt und gesagt: „Die haben deinen Papa.“ Wir sind dann zu meiner Mutter
gefahren. Meine Familie hat mich das Video nicht anschauen lassen, damit ich
ruhig bleibe für das Kind in mir.

ZEIT ONLINE: Ihre Familie lebt in Los Angeles. Ihr Vater ist Ingenieur und IT-Experte und hat zehn
Jahre lang bei Siemens gearbeitet. Er wurde
während einer Geschäftsreise nach Dubai über zwei verschiedene Länder, die Arabischen Emirate und den Oman, in den Iran gebracht. Wie konnte das gelingen?

Sharmahd: Das wird noch untersucht. Das
letzte Mal, dass meine Mutter Kontakt zu ihm hatte, war während eines
Videogesprächs in seinem Hotelzimmer im Flughafen in Dubai. Sie hatte Angst um
ihn. Also hat er seinen Google-Tracker freigeschaltet. Später konnte sie sehen,
wie er sich bewegt: nicht Richtung Indien, sondern in den Oman und in die
Küstenstadt Sohar. Dann bricht der Tracker ab. Seit diesem Tag trackt sich
meine Familie gegenseitig, sobald wir uns bewegen.

ZEIT ONLINE: Welche Maßnahmen haben Sie nach
seinem Verschwinden getroffen?

Sharmahd: Wenn eine normale Person den eigenen
Vater entführt, wendet man sich an die Polizei. Was aber macht man, wenn ein
Staat den Vater entführt hat? Wir haben uns an Interpol gewandt, ans FBI, das
State Department. Gleichzeitig haben wir versucht, das Auswärtige Amt in
Deutschland zu kontaktieren, die Botschaft. Wir konnten niemanden erreichen. Es
gibt kein Drehbuch zu der Frage: Wie rettet man jemanden, den man liebt? Irgendwann
hat Interpol zurückgerufen: „Ma’am, wir verhandeln nicht mit Privatpersonen,
sondern mit Staaten.“ Eine Woche später hatten
wir den ersten Termin bei der deutschen Botschaft. Man sagte uns, man werde sich
hochrangig um meinen Vater kümmern. Wann hat man das? Als er sich keinen Anwalt
aussuchen durfte? Ihm alle Zähne ausgeschlagen wurden? Er zum Tode verurteilt
wurde?

ZEIT ONLINE: Was wird Ihrem Vater vorgeworfen?

Sharmahd: Unter anderem ein vermeintlicher
Bombenanschlag in der iranischen Stadt Schiras, 2008. Während seiner
Schauprozesse wurden über 30 Anklagepunkte verlesen: Spionage, Sprengung
und so weiter. Nach dem 20. Vorwurf haben wir nur noch gelacht. Ist mein Vater
James Bond? Osama bin Laden? Einfach lächerlich. Iranische Medien haben vorher berichtet,
dass es sich möglicherweise um einen Unfall gehandelt hat. Mittlerweile wurden
über 40 Menschen für die gleiche Tat hingerichtet, für die auch mein Vater
fälschlich beschuldigt wurde. Sie benutzen die immer gleichen Vorwürfe – und
sind dabei nicht einmal sonderlich kreativ.

ZEIT ONLINE: Ihr Vater besitzt nur einen
einzigen Pass: den deutschen. In den Schauprozessen sieht man, wie dieser an
die Wand projiziert wird.

Sharmahd: Eine Nachricht an Deutschland. Da zeigt
auch der Zeitpunkt, an dem seine Schauprozesse anfingen: Als die Verhandlungen zum
Atomabkommen in Wien stattfanden. Da haben sie gezeigt: Wir haben euren Staatsbürger.
Mein Vater ist kein Deutschiraner, kein Doppelstaatler. Er ist mit sieben
Jahren aus dem Iran nach Deutschland gekommen, seit 2002 lebt er in Los Angeles.
Er ist nie in sein Geburtsland zurückgekehrt.

ZEIT ONLINE: Was ist das Ziel des Regimes?

Sharmahd: Sie wollen zwei Dinge und das sagen
sie auch ganz deutlich. Erstens ist es eine
Nachricht an die iranische Diaspora. Ihr seid nirgendwo sicher. Das Todesurteil
wurde verkündet, nachdem bei der Münchner Sicherheitskonferenz iranische
Oppositionelle eingeladen und Regimevertreter ausgeladen worden waren. Zweitens: die Auslieferung des iranischen Diplomaten
Assadollah Asadi, gegen meinen Vater. Asadi wurde in Belgien zu 20 Jahren
Haft verurteilt, weil er einen Bombenanschlag auf iranische Oppositionelle geplant hatte.

„Wir haben das Regime zu groß werden lassen“

ZEIT ONLINE: Wie haben die deutsche
Bundesregierung und das Auswärtige Amt reagiert?

Sharmahd: Man hat uns versichert, dass er
deutscher Staatsbürger sei und man sich hochrangig für ihn einsetzen werde. Erst
zweieinhalb Jahre später, nachdem er das Todesurteil bekommen hat, wurden zwei
iranische Diplomaten aus Deutschland ausgewiesen. Das war alles.

ZEIT ONLINE: Bekommt Ihr Vater konsularische
Betreuung?

Sharmahd: Er braucht keine Zahnpasta und
Zahnseide. Sein Leben muss gerettet werden.

ZEIT ONLINE: Sie leben seit 2006 in Los Angeles.
Was machen die USA im Fall von Entführungen aus Ihrer Sicht besser als
Deutschland?

Sharmahd: Es gibt zwei beispielhafte Fälle:
James Foley, ein amerikanischer Journalist, der vom IS entführt und enthauptet
wurde. Und Robert Levinson, ein FBI-Agent, der vom islamischen Regime entführt wurde.
Diese beiden Fälle sind sehr bekannt in den USA. Aktivisten haben erreicht,
dass Gesetze erlassen werden, die regeln, wie mit solchen Fällen umgegangen
wird. Es gibt jetzt die „Levinson-Law“ und eine Abteilung im amerikanischen
Außenministerium, die auf genau solche Geiselnahmen spezialisiert ist. An die
Angehörige sich wenden und mit Sicherheitsbehörden und Reportern
zusammenarbeiten können. Man würde sofort Presse bekommen und müsste nicht
zweieinhalb Jahre schreien. Zudem gibt es finanzielle Unterstützung für die Familien.
Es gibt einen Apparat, der hilft. In Europa haben wir so etwas nicht. Obwohl
die meisten Geiseln des iranischen Regimes europäische Geiseln sind.

ZEIT ONLINE: Wie viel Einfluss hat das iranische
Regime in Deutschland?

Sharmahd: Sie filmen die Demonstrationen, die
gerade in Deutschland stattfinden. Sie finden mittels Gesichtserkennung heraus,
wer die Demonstranten sind, und bedrohen dann manche Familien im Iran. Ein Drittel
der Personen, die sich an unserer Save-Sharmahd-Kampagne beteiligen, hat Morddrohungen
erhalten. Ahadi, eine politische Aktivistin, war die Erste in Deutschland, die
mit mir gesprochen hat. Sie wurde monatelang von deutschen Behörden in Safe-Häusern
versteckt. Es ist ein Problem von uns allen, hier in Deutschland, in Europa. Wir
haben das Regime zu groß werden lassen: das islamische Zentrum, die Sicherheitsapparate.
Sie können uns ausspionieren, terrorisieren, töten.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, dass es ein iranisches
Propagandavideo in deutscher Sprache über Ihren Vater gibt.

Sharmahd: Eine Reporterin vom Spiegel hat mir
ein Video geschickt, das ihr zugespielt wurde. Darin spricht ein Mann von Iran
TV auf Deutsch mit starkem persischem Akzent. Es wird ganz klar Propaganda über
meinen Vater in deutscher Sprache verbreitet. Das Regime will nicht, dass die deutschen
Medien die Wahrheit berichten. Es möchte, dass die deutschen Medien berichten,
was das Regime behauptet: dass mein Vater Terrorist und iranischer Staatsbürger
ist.

ZEIT ONLINE: Ist es jetzt das erste Mal seit
Jahren, dass ein deutscher Staatsbürger hingerichtet werden soll?

Sharmahd: Ich glaube, ja. 2020 gab es einen
Gefangenenaustausch und ein sogenannter Bio-Deutscher wurde freigelassen. Mein
Vater hat deutsche Steuern bezahlt, seine Kinder sind auf deutsche Schulen
gegangen. Was müssen wir machen, um als volle Deutsche zu gelten?

ZEIT ONLINE: Nach der Verkündung des Todesurteils
erschienen jeden Tag Propagandavideos über Ihren Vater im Staatsfernsehen.

Sharmahd: Ein sicheres Zeichen, dass sie
jemanden töten wollen. Es gibt Menschen im Iran, wir nennen sie die „graue
Bevölkerung“, die sich noch nicht gegen das Regime gewendet haben, aber auch
nicht für das Regime sind. Sie können beeinflusst werden. Deswegen werden die
Eltern der in Schiras getöteten Kinder im Staatsfernsehen gezeigt. Die sagen
dann Sätze wie: „Wenn mein Sohn noch am Leben wäre, wäre er Doktor geworden.“ Dahinter
erscheint dann das Foto von meinem Vater.

ZEIT ONLINE: Ihm droht der Tod durch Erhängen.

Sharmahd: Im Gericht wurden die Angehörigen
gefragt: Was wollt ihr mit diesem Mörder machen? Die Antwort lautete: Wir
wollen, dass er in Schiras an einem Kran aufgehängt wird – und alle es sehen
können.

ZEIT ONLINE: Wie ist sein Gesundheitszustand?

Sharmahd: Er ist seit 964 Tagen gekidnappt. Heute,
am 23. März, ist sein 68. Geburtstag. Wir wissen nicht, wo er ist. Nur dass er
sich in kompletter Isolation befindet. Im letzten Gespräch mit meiner Mutter im
Februar hat er gesagt, seine Zähne seien gebrochen. Also angedeutet, dass sie
entweder ausgezogen oder ausgeschlagen wurden. Er hat 20 Kilo verloren,
Diabetes, Bluthochdruck, Parkinson. Sein Empfinden für Raum und Zeit ist
durcheinander. Er findet die Worte nicht. Vor anderthalb Jahren haben wir das
letzte Mal miteinander telefoniert.

„Meine Tochter gibt mir Mut“

ZEIT ONLINE: Ihr Vater gilt als Monarchist und
Oppositioneller. Er gründete die Webseite
Tondar.org und die gleichnamige Radiostation.

Sharmahd: Seiner Meinung nach wäre das beste
Staatssystem im Iran ein Königreich und die Trennung von Kirche und Staat. Die Bewegung,
der er eine Stimme gegeben hat, heißt Kingdom Assembly of Iran. Eine
Bewegung mit einer langen Geschichte, die es bereits zu Zeiten des persischen
Reiches gab. Wann immer der König aus dem Weg geräumt worden ist, gab es eine
Bewegung aus der Zivilgesellschaft, die sich in seiner Abwesenheit für die
Freiheit des Volkes eingesetzt hat. Mein Vater ist Diplomingenieur und war sehr
gut darin, Webseiten zu kreieren, die nicht vom Regime runtergenommen werden
konnten. Auf seiner Webseite kamen Menschen zu Wort, die sonst keine Stimme
hatten, nicht nur Monarchisten.

ZEIT ONLINE: 2009 gab es in Los Angeles einen Mordanschlag
auf Ihren Vater.

Sharmahd: Ein Auftragsmörder war darauf
angesetzt, meinen Vater umzubringen. Er sollte ihn mit einem Van überfahren. Sein
Komplize hat kalte Füße bekommen und sich selbst der Polizei gestellt. Die
35.000 Dollar, die sich bei dem Auftragskiller fanden, trugen das Zeichen
der Zentralbank der Islamischen Republik Iran. Er wurde verurteilt und in einem
späteren Gefangenenaustausch wieder in den Iran gelassen.

ZEIT ONLINE: Deutschland ist der größte europäische
Handelspartner des Iran. Ihr Vater hat für Siemens gearbeitet, ein Konzern, der
im Iran aktiv ist.

Sharmahd: Mein Vater hat zehn Jahre lang für
Siemens gearbeitet. Warum stehen diese Konzerne nicht auf und sagen: Wenn ihr
unseren Staatsbürger und Mitarbeiter nicht freilasst, dann brechen wir die
Handelsbeziehungen ab? Wir suchen doch nach Druckmitteln, um die Terroristen
unter Druck zu setzen.

ZEIT ONLINE: Social Media hilft Ihnen im Kampf
um Ihren Vater am meisten. Wie agiert das Regime auf den sozialen Kanälen?

Sharmahd: Es gibt eine Cyberarmee, die dafür
bezahlt wird, Oppositionelle zu identifizieren. Diese Menschen bekommen
Morddrohungen.

ZEIT ONLINE: Also sind das Trolle?

Sharmahd: Es sind nicht irgendwelche Clowns,
die irgendwo sitzen und dafür bezahlt werden. Das ist deren Job: Kommentare zu
schreiben, meinen Account zu melden und Menschen, die das liken, Nachrichten zu
schicken. Das ist ein richtiger Beruf, den es gibt. Die haben Zentren, in denen
sie ausgebildet werden, Accounts oder Hashtags zu finden.

ZEIT ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Sharmahd: Sie kommentieren Videos von mir: Guck
mal, wenn sie wirklich um ihren Vater trauern würde, dann hätte sie nicht so
viel Make-up im Gesicht. Zu Beginn waren es nur persische Kommentare. Seitdem sich
deutsche Medien für den Fall interessieren, benutzen sie Google Translator. Unter
meinen Postings steht dann: „Dies Mann ist ein Terrorismus.“ Das ist einerseits
lustig, andererseits gefährlich, weil die damit Erfolg haben.

ZEIT ONLINE: Was kann man tun?

Sharmahd: Jedes Herz hilft.

ZEIT ONLINE: Was gibt Ihnen Mut?

Sharmahd: Die Frauen, die auf die Straße
gehen, obwohl auf sie geschossen wird. Am 16. März war der Beginn der
Revolution genau sechs Monate her. Sie gehen immer noch auf die Straße. Und
meine Tochter gibt mir Mut. Ein Stück von ihm, das weiterlebt.

ZEIT ONLINE: Sie haben vorhin mit ihr gelacht.

Sharmahd: Bei so einem Interview ist man am
Ende völlig fertig. Der Körper zittert, weil man immer wieder traumatisiert wird.
Aber dann spaziert dieser kleine Mensch herein und für eine Sekunde ist alles
vergessen. Eben war so ein Moment: Sie ist während des Interviews ganz allein
aufs Töpfchen gegangen.