Tod von Tina Turner: Eine Herrscherin über den Donnerhall
Eine Herrscherin über den Donnerhall – Seite 1
In
einer ihrer meistgesehenen Szenen schwebt sie an einem Seil aus großer Höhe in eine vergitterte Kuppel ein, umstrahlt von blauem Licht. Zwei Männer helfen ihr aus der Luftschaukel heraus, damit sie
die Huldigungen des Publikums würdevoll entgegennehmen kann. Die Inszenierung
zeigt eine Frau auf dem Zenit ihres Erfolgs, selbstbewusst und herrisch, unter
sich die johlenden Massen, hinter sich die Hölle. Ihr Name: Aunt Entity. Ein
Begriff, der sowohl für eine abstrakte Formation steht als auch für eine
Instanz. Tina Turner, die im Endzeitfilm Mad Max Beyond Thunderdome
die Herrscherin gibt, ist zu dieser Zeit, im Jahr 1985, zweifellos eine Instanz
und der Moment eine Schlüsselszene nicht nur für ihre Film-, sondern auch für
ihre Musikkarriere.
Denn
der Thunderdome, in dem ein blutgieriges Publikum Spektakel erleben will, bei dem
es Gewinner und Verlierer geben muss, lässt sich als endzeitliche Allegorie auf
das bisweilen gnadenlose Showbusiness der Kulturindustrie lesen: Fun ist hier ein
Stahlbad. Allerdings eines, das Rost angesetzt hat. Die düstere Vision aus der Mad-Max-Reihe
entwirft ein deindustrialisiertes Amerika, das sich in einen einzigen rust belt verwandelt hat. Darin liefern
sich die in Banden organisierten Überlebenden des Niedergangs einen brutalen Kampf um die letzten fossilen Ressourcen: Blut für Öl.
Trotz
seines klar dystopischen Charakters stehen die Steampunkästhetik des Films und
besonders Tina Turners Rolle darin mit dem Afrofuturismus in Verbindung, einem
Genre, das in der Science-Fiction die Überwindung der Gegensätze von race ersehnt. Zwar gibt es auch hier wieder
Sklaverei, doch sind die Herrschaftsverhältnisse nicht mehr rassistisch
begründet, teils sogar umgedreht. Turner wurde die Rolle der Wüstenkönigin
offeriert, nachdem sie sich als Fan der Filmreihe geoutet hatte. Ihr Titelsong We
Don’t Need Another Hero ist nicht nur eine Warnung vor dem nächsten starken
Max, er enthält auch heute hochaktuelle Zeilen: „The last generation/
We are the ones they left behind/ And I wonder when we are ever gonna change.“
Die letzte Generation fragt sich, wann wir uns jemals ändern werden: Mehr politischer
Prophetismus geht gerade kaum im Pop.
Die
Rolle war Tina Turner auf den Leib geschneidert. Mitte der Achtzigerjahre
erlebte sie ein überraschendes Comeback, nachdem sie zuvor durch die Ehehölle
mit dem Soul- und Funkmusiker Ike Turner gegangen war. Nun erhielt sie drei
Grammys für den Song What’s Love Got to Do With It aus dem 1984
erschienenen Album Private Dancer. Damit war sie endgültig zur Queen
of Rock geadelt worden und nahm in der Popthronfolge ihren Rang neben
den Gesangsmonarchen Elvis Presley und Michael Jackson ein. Den Krönungsweg
hatte 1983 ihr Song Let’s Stay Together geebnet, eine Coverversion von
Al Greens Soulklassiker. Tina Turner sang ihn mit sehr viel Schmelz und prägte
damit den weichgespülten Sound der frühen Achtziger mit – ähnlich wie die Jahrzehnte
jüngeren Schwarzen Frauenstimmen von Whitney Houston oder Sade Adu. Auch wenn Turner
stets rauer klang, was ihr das etwas zweifelhafte Etikett der „Rockröhre“
einbrachte.
Damit
hatte sie nicht nur musikalisch, sondern auch lebensweltlich einen weiten Weg
zurückgelegt. Geboren wurde sie 1939 als Anna Mae Bullock in Zeiten der
Rassentrennung im Haywood Memorial Hospital von Brownsville im US-Südstaat Tennessee. Ihr erster Lebensschrei erklang in einer Klinik, die nur Schwarze aufnahm. Ihre
musikalischen Anfänge waren klassisch für Schwarze Musikschaffende jener Jahre:
Die ersten Lieder sang sie in den Gottesdiensten einer Baptistengemeinde, wo ihr Vater predigte. Nach der Trennung ihrer Eltern folgte sie mit ihrer
Mutter und ihrer Schwester dem soziodemografischen Trend jener Jahre: der
Schwarzen Landflucht in die großen Städte, in denen es bessere Jobs gab als auf
den Baumwollfeldern, in der Warenproduktion und für einige Wenige auch in der noch
jungen Musikindustrie. In St. Louis heuerte die 19-Jährige als Pflegehilfskraft
in einem jüdischen Krankenhaus und als Backgroundsängerin bei den Kings of Rhythm
an, einer R-’n‘-B-Formation. Das war Segen und Fluch zugleich, denn die
selbst erklärten Rhythmuskönige hatten einen Alleinherrscher: den Bandleader Ike Turner.
Ihm
verdankt Anna Mae Bullock nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre
Solokarriere. Die meisten Schwarzen Frauen in Vokalgruppen jener Jahre waren
für den Klanghintergrund der oftmals männlichen Leadsänger zuständig. Ihr
sparsamer Hintergrundgesang und die ebenso sparsamen Bewegungen auf der Bühne
in sittsamen Kostümen waren dem Amerikanisten Martin Lüthe zufolge sorgsam
einstudiert, um mit einer zwar erotisch aufgeladenen, aber „desexualisierten“
Performance Schwarzer Weiblichkeit die Erwartungen des kaufträchtigen weißen Publikums zu bedienen. Dass
die junge Sängerin, die 1958 als Little Ann debütierte, dereinst mit genau
diesen Restriktionen brechen sollte, war damals nicht zu erahnen. Ihre
Erstveröffentlichung Boxtop war eine Doo-Wop-Nummer und entstammte damit
einem Genre, das in den Schwarzen Vierteln auch von Nachbarsgruppen an
Straßenecken gesungen wurde. Harmonischer Gesang ersetzte die teuren Rhythmusinstrumente,
bevor die Not zur Tugend erhoben und auch Instrumentalmusik mit dem
charakteristischen „Doo-Wop-Shoo-Be-Doo“-Gesang unterlegt wurde, der
auch Boxtop prägte.
Kein lebendes Denkmal der eigenen Jugend

Der
nationale Durchbruch kam 1960 mit dem von Ike geschriebenen R-’n‘-B-Mover A
Fool In Love, der erstmals unter den Namen Ike & Tina Turner erschien. Beide
waren privat bereits ein Duett, wenn auch noch kein Ehepaar. Den Namen nahm
sie auf Anregung des Plattenlabelbetreibers Juggy Murray an, der ihn schlicht
für marktgängig hielt. Ihr als wilder Schrei vorgetragener Auftakt zum Song verriet
bereits, welche Kraft ihre Stimme entfesseln konnte. Das Stück über die
Liebestorheit galt dem Musikkritiker Kurt Loder daher als „die Schwärzeste
Scheibe“, die nach Ray Charles‘ What’d I Say die – damals noch weiß
geprägten – US-Popcharts erklommen hatte, immerhin bis auf Platz 27. Eine spätere Aufnahme
aus der TV-Musikshow Shindig! zeigt eine ungestüme, beinahe wütende
Gesangsperformance, die ihre Energie scheinbar nur mühsam im Zaum halten kann.
In
den Sechzigern tingelte das Duo mit einer Bühnenshow nebst der Background-Band
Ikettes durch den Chitlin‘ Circuit, einen nach einem einfachen
Eintopfgericht benannten losen Zusammenhang urbaner Musiktheater und Clubs, die
noch aus Zeiten der Rassentrennung stammten. Türöffner für das nationale
Publikum waren Dick Clarks Fernsehshow American Bandstand, wo Schwarze
Künstler vor einem aus weißen
Teenagern gecasteten Studiopublikum auftreten konnten, und schließlich Ende des
Jahrzehnts die viel gesehene Ed Sullivan Show. Tina Turner wirkte aber
auch selbst als Türöffnerin für Schwarze Musikerinnen, als der Rolling Stone
1967 mit ihrem Foto erstmals eine Schwarze Frau für würdig befand, auf dem
Cover abgebildet zu werden. Mittlerweile war der Produzent Phil Spector, damals
berühmt für seine Wall of Sound genannten
druckvollen Arrangements, auf Ike und Tina Turner aufmerksam geworden und bot ihnen
einen Plattenvertrag für den Song River Deep – Mountain High an. Er wurde
ein Hit.
Der
stetige Erfolg ließe sich unter dem Titel des 1976 veröffentlichten Albums I Want to Take You
Higher fassen, wäre dieses Jahr nicht zum Wendepunkt geworden. Die 1962 in
Tijuana geschlossene Ehe mit Ike Turner, der nicht nur high auf der Erfolgsleiter, sondern auch immer öfter high auf
Kokain war, wie er später selbst bekannte, scheiterte. Tina floh aus einem
Hotel in Dallas nach einem Streit vor seinen Schlägen – mit nur 36 Cent in der
Tasche, wie sie später dem Magazin Ebony erzählte. Zu den juristischen
Folgen gehörte nicht nur die Scheidung, sondern auch ein teurer Rechtsstreit
wegen bereits zugesagter gemeinsamer Auftritte bei etlichen
Konzertveranstaltern. Turner füllte jetzt nur noch kleinere Clubs. Zu allem
Unglück ließ sie auch noch ihr Label United Artists fallen, nachdem zwei Alben
an den Charts gescheitert waren.
Nach
dem Comeback in den Achtzigern brachten die Neunzigerjahre zahlreiche
Ehrungen. Der Aufnahmezeremonie mit ihrem Ex-Mann in die Rock and Roll Hall of
Fame blieb sie zwar fern, aber ein Biopic mit Angela Bassett in der Hauptrolle brachte
1993 ihr Leben auf die Leinwand. Zwei Jahre später trat sie als Performerin des
Titelstücks für den James-Bond-Film GoldenEye in die Fußstapfen von
Shirley Bassey und Gladys Knight. Neben immer neuen Veröffentlichungen und
Wiederveröffentlichungen publizierte sie zwei Autobiografien und zuletzt
einen Lebensratgeber.
Ihr
eigenes Leben führte auf die glanzvollen ebenso wie auf die Schattenseiten
des Popkosmos. Sie begegnete problematischen Männern wie Phil Spector und Ike Turner, war aber von gleich zwei Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts
geprägt und prägte diese mit: die der Frauen und die der Schwarzen. Nicht
umsonst fällt im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Rolle oft der
Begriff des Empowerments. Zudem gelang ihr offenbar, was im von Jugendkult
geprägten Thunderdome des Showbusiness nur wenigen vergönnt ist: sich stetig zu
erneuern, ohne jeder Mode hinterherzurennen oder zum lebenden Denkmal der
eigenen Jugend zu werden. Auch im fortgeschrittenen Alter verkörperte sie
unangefochten die Rolle ihres Lebens: eine souverän auftretende Herrscherin des
Pop. Am Mittwoch starb Tina Turner nach mehreren Krankheiten in ihrer Schweizer
Wahlheimat – und mit ihr eine der ganz großen Stimmen des 20. Jahrhunderts.