Till Lindemann: Schon wieder dasjenige lyrische Ich
Moderne Gesellschaften, sagt der Soziologe Niklas Luhmann, sind funktional differenziert: Jedes gesellschaftliche Subsystem folgt seiner eigenen Logik. Das Rechtssystem spricht Recht, aber es produziert keine Moral. Die Einheit des Schönen, Wahren und Guten ist zwar ein menschliches Herzensbedürfnis, aber eigentlich unmodern. Und weil der Mensch in verschiedenen Rollen an unterschiedlichen Subsystemen teilnimmt, kann es zu Zerreißproben kommen. Wie im Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann und Kiepenheuer & Witsch.
Der Verlag hatte sich 2023 von dem Musiker und Dichter getrennt, nachdem dieser in Verruf geraten war: Er soll Frauen während seiner Konzerte durch die Wucht seines Star-Ruhms und/oder andere Methoden sexuell verfügbar gemacht haben. Im juristischen Subsystem erhärten ließen sich die Vorwürfe zahlreicher Frauen nicht. Aber in der Stimmung des Jahres 2023 erschien die Entscheidung des Verlags moralisch nachvollziehbar: Man wollte nicht länger mit Misogynie Geld verdienen. Allerdings reicht moralische Empörung nicht, um einen Vertrag einseitig aufzukündigen. Daran hat jetzt das Landgericht Köln erinnert, das nicht nur die Unterscheidung von Recht und Moral, sondern auch die von Moral und Kunst betont. KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba hatte damals die Trennung von Lindemann auch mit dem Video Till the End begründet, in dem Lindemann (auch) sein Buch 100 Gedichte (2013) mit einem Dildo penetrierte.