Tiefenlager | „Was bleibt, ist das Problem der Erinnerung“
In der aktuellen Atomkraft-Debatte geraten Fragen zur dauerhaft sicheren Lagerung des radioaktiven Mülls zu sehr aus dem Blick.

Die beiden Nachrichten gingen kurz nacheinander ein: Zunächst die Mitteilung, dass die Schweiz in ihrem Entscheidungsprozess über den Bau eines neuen Tiefenlagers für Atommüll einen Schritt weitergekommen und die vorläufige Entscheidung auf die Zürcher Gemeinde Stadel gefallen ist. Der Standort liegt nahe der deutschen Grenze. Nur wenige Minuten später dann die Information, dass sich soeben ein Erdbeben im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz ereignet hatte, die ETH Zürich registrierte einen Stoß der Stärke 4,7. Das Beben war an vielen Orten für die Bewohner deutlich spürbar, so berichtete eine Seniorin aus Zürich, die im 6. Stock eines Hochhauses im Stadtzentrum wohnt, sie sei vom Sofa aufgeschreckt, weil sich dieses auf einmal mehrere Zentimeter vom Boden gehoben habe. Erdbeben sind in der Schweiz nicht unüblich. Die Kombination aus den Schlagworten Kernkraftwerk und Erdbeben weckt jedoch unvermeidlich die Erinnerung an die Nuklearkatastrophe von Fukushima. Und eben erst wurde vorsorglich die Laufzeit zweier Meiler in Deutschland bis zum Frühjahr verlängert, um das Stromnetz im Winter zu entlasten. Die Ambivalenzen in Sachen Atomkraft treten damit einmal mehr in all ihrer Komplexität zutage.
Kernkraftwerke sind nicht sicher. Dazu muss man nicht einmal bis zum 26. April 1986 zurückblicken. Eben erst wurden französische Reaktoren notfallmäßig wegen Korrosion stillgelegt. Zudem ist das ukrainische AKW Saporischschja einer der großen Angstfaktoren im Krieg Russlands. Darüber hinaus erinnern die aufgeschreckten Reaktionen der Anwohner des geplanten Tiefenlagers in der Schweiz daran, dass auch der strahlende Abfall aus den Meilern gewaltige Risiken birgt – und zwar dauerhaft. Genau genommen für den aberwitzigen Zeitraum von etwa 200.000 Jahren.
Auch wenn sie nur eine von vielen betroffenen künftigen Generationen sind – wie stehen Jugendliche heute zur Atomkraft? Während damals die Anti-Atomkraft-Bewegung im Wendland oder die Proteste gegen die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf unzählige junge Menschen auf die Straßen trieben, ergibt die Jugendstudie der TUI-Stiftung „Junges Europa 2022“ dieser Tage kein klares Bild. Beim Thema Atomenergie gehen demnach die Meinungen der jungen Leute zwischen 16 und 26 Jahren in Europa auseinander. Insgesamt gibt es eine starke Tendenz zur Kompromissbereitschaft, Atomenergie wird als Brückentechnologie wahrgenommen, die einen Beitrag zum Klimaschutz leisten kann.
Farras Fathi vom Rat der jungen Generation in Deutschland sieht das anders. „Ich sehe Atomkraft nicht zur Überbrückung geeignet“, sagt er. Seiner Meinung nach fehlt vielen jungen Menschen der Zugang zum Thema. Auch sei das Risikogefühl überwiegend theoretischer Natur. „Da mangelt es an unmittelbarer Erfahrung wie zum Beispiel damals bei der Generation, die Tschernobyl miterlebt hat. Auch Fukushima ist für die meisten zu weit weg“, sagt Fathi. Der Rat der jungen Generation versuche deshalb, mit so vielen Leuten wie möglich ins Gespräch zu kommen. Das Gremium ist in die Endlager-Suche in Deutschland eingebunden. Farras Fathi, der in München Politik studiert und zu den Gründungsmitgliedern des RdjG gehört, kam durch sein Interesse an Beteiligungstheorien dazu. Doch bislang ist die Zahl der Mitglieder dieses Rats sehr überschaubar. Auf Instagram hat der RdjG lediglich 84 Follower. Immerhin ist die Organisation ein Jahr nach ihrer Entstehung inzwischen ein Verein. Doch kaum jemand hat bisher davon Kenntnis genommen. Was nicht weiter verwundert, wissen doch die wenigsten überhaupt über die laufende Standortauswahl für das Endlager in Deutschland Bescheid. Dabei ist das Beteiligungsverfahren, für das im Wesentlichen die Bundesgesellschaft für Endlager (BGE), das Nationale Begleitgremium (NBG) und das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) verantwortlich sind, nach Ansicht von Martin Stümpfig „eigentlich vorbildlich“. Der Sprecher für Energie und Klimaschutz der Landtagsfraktion der Grünen in Bayern war diesen Sommer zusammen mit Farras Fathi Teilnehmer eines Podiumsgesprächs der Petra-Kelly-Stiftung zum Thema Tiefenlager. Derzeit kommt noch mehr als die Hälfte der Gesamtfläche in Deutschland für ein Endlager infrage. Fathi geht davon aus, dass das unterirdische Lager für die Bevölkerung erst an Relevanz gewinnen wird, wenn die Gebiete deutlich weiter eingegrenzt sind. Das sieht Stümpfig ähnlich. „Das Thema ist sehr komplex“, sagt er. Während das Interesse zu Beginn des Beteiligungsverfahrens vergleichsweise groß gewesen sei, seien inzwischen viele „wieder ausgestiegen“. „Wenn man wirklich mitreden will, muss man sich gut informieren, das ist Arbeit“, sagt er.
Diese Arbeit hat sich Annette Hug gemacht. Die Schweizer Autorin hat für ihren 2021 erschienenen Roman „Tiefenlager“ intensiv recherchiert. In dem Buch übernehmen die Hauptfiguren die Aufgabe, das Wissen über die atomaren Endlager für spätere Generationen zu dokumentieren. „Die technischen Probleme für die Tiefenlagerung sind im Grunde weitgehend gelöst“, sagt Hug. „Was bleibt, ist das Problem der Erinnerung.“ Sprich: Die Frage, wie man Menschen in einer weit entfernten Zukunft vermitteln kann, was es mit den Tiefenlagern auf sich hat und welche Gefahren sie bergen. Denn aus heutiger Sicht ist es unmöglich mit Gewissheit zu sagen, welche Speichermedien – ja, nicht einmal welche Sprache! – Generationen in weit entfernter Zukunft verwenden werden. Müssen wir unser Wissen über die atomare Bedrohung in Symbole packen, in eine Art zeitlose Universalsprache? Die Forschung, die sich mit diesem Thema befasst, nennt sich Atomsemiotik und Annette Hug, die selbst ein Faible unter anderem für die chinesische Schrift hat, hat sich intensiv damit beschäftigt. „Welche Zeichen werden Menschen in 100.000, in 200.000 Jahren noch deuten können? Ich denke, man kann das nicht ein für alle Mal festschreiben, man muss die Zeichen weiterentwickeln“, sagt sie. In ihrem Roman entsteht deshalb die Idee, eine Art Orden zu gründen, der sein lebensrettendes Wissen von Generation zu Generation weitergeben soll. Das hat sich Annette Hug nicht selbst ausgedacht. Auf die Idee brachte sie ein Wissenschaftler in einem Felslabor, in dem Materialien für atomare Endlager getestet werden. „Ich war fasziniert davon, dass in einem naturwissenschaftlichen Milieu dann, wenn man nicht mehr weiterweiß, eine solche Idee aufkommt“, sagt Hug. Der Rat der jungen Generation ist ein wenig wie ein erster Schritt in Richtung einer solchen überdauernden Organisation. Gleichzeitig jedoch leben wir in einer Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen jedweder Art zunehmend schwindet. „Das ist unheimlich“, findet Annette Hug. „Wie gefährlich diese Anlagen in einer instabilen Welt sind.“
Als Schweizerin beobachtet sie das Verfahren zum aktuell geplanten Tiefenlager in ihrer Heimat schon seit geraumer Zeit mit großem Interesse. Selbiges läuft bereits seit 2008 und ist mit der Eingrenzung auf den nun bekannt gewordenen Standort noch längst nicht abgeschlossen. 2024 soll das Rahmenbewilligungsgesuch eingereicht werden, der Bundesrat wird voraussichtlich 2029 entscheiden, 2030 dann das Parlament. Auch eine Volksabstimmung steht noch im Raum. Mit der Inbetriebnahme ist frühestens 2050 zu rechnen. Verschlossen werden soll das Lager im Jahr 2115. Bereits dieser Zeitpunkt in rund 100 Jahren ist aus heutiger Perspektive kaum greifbar. „Wie plane ich in einer Welt, die immer unplanbarer wird?“, stellt Annette Hug eine der entscheidenden Fragen. Darauf Antworten zu finden, ist Teil unserer Verantwortung. Das droht in der aktuellen Debatte über das Für und Wider der Atomkraft aus dem Blick zu geraten.