Theater in Russland: In der Wischmopp-Falle
In den vergangenen Wochen stand die russische Theaterwelt erneut unter verschärfter Beobachtung des Staates. Die Verleihung des wichtigsten nationalen Theaterpreises Goldene Maske am 23. April geriet zur Farce. Die Namen ausgezeichneter Regisseure durften nicht erwähnt werden und die Preisträger mussten das alte sowjetische Spiel spielen: vom Unerwünschten sprechen, ohne es zu benennen. Wohl nicht zufällig erschütterten kurz darauf zwei neue Strafverfahren die Szene.
Am 4. Mai wurden die Regisseurin Schenja Berkowitsch (38) und die Dramatikerin Swetlana Petrijtschuk (43) in Moskau festgenommen. Beide wurden wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ für das 2021 angelaufene Theaterstück Finist, der helle Falke angeklagt – ein schwerer Vorwurf, der viele Jahre Haft bedeuten kann. Die Polizei führte Durchsuchungen bei den Verhafteten sowie in den Wohnungen von Berkowitschs Mutter und ihrer 80-jährigen Großmutter, die in St. Petersburg leben, durch. Am 5. Mai wies das Gericht Berkowitsch und Petrijtschuk für zwei Monate in eine Untersuchungshaftanstalt (SIZO) ein.
Ein offener Brief zur Unterstützung der beiden erhielt in kürzester Zeit mehr als 5.000 Unterschriften, und auch die berühmten Theaterregisseure Kirill Serebrennikow und Dmitri Krymow veröffentlichten Stellungnahmen. Menschen aus verschiedenen Sphären der Gesellschaft meldeten sich zu Wort: unabhängige Menschenrechtsaktivisten, die Politikwissenschaftlerin und Ikone des russischen Widerstands, Ekaterina Schulmann, aber auch unerwartete Personen wie der Lieblingsgrafiker der Moskauer Autoritäten, Artemi Lebedew, und der Lieblingssänger der älteren Generation, Alexander Rosenbaum.
Gefährliches Märchen
Die in St. Petersburg geborene Schenja Berkowitsch ist Absolventin des Kurses von Kirill Serebrennikow an der Moskauer Kunsttheaterschule (2008 – 2012) und arbeitet seitdem als unabhängige Regisseurin, Drehbuchautorin, Librettistin und Übersetzerin. Sie ist bekannt für ihr Engagement – sie unterstützte öffentlich ihren Lehrer und andere Angeklagte im Prozess gegen dessen Theatergruppe Siebtes Studio, schrieb über Feminismus in Russland und arbeitete ehrenamtlich mit staatlichen Waisenhäusern zusammen: Sie führte Bildungsprogramme und ein Theaterfestival durch, half Waisenkindern bei der Vermittlung und adoptierte selbst zwei Teenager-Mädchen. Am 24. Februar 2022 wurde Berkowitsch wegen einer Mahnwache mit einem Plakat mit der Aufschrift „нет войне“ („Nein zum Krieg“) verhaftet und war zehn Tage lang im Gefängnis. Trotzdem blieb sie in Russland und sprach weiterhin über ihre politischen Überzeugungen.
Das Theaterstück von Swetlana Petrijtschuk Finist, der helle Falke ist im Stil eines russischen Märchens geschrieben – woran auch der Titel erinnert –, erzählt aber von modernen Ereignissen: Es geht um russische Frauen, die im Internet nach Ehemännern suchten, aber von radikalen Islamisten getäuscht wurden, in das von ISIS kontrollierte Gebiet gingen und dort in der Sklaverei landeten. Aus dem Text des Stücks geht hervor, dass Frauen bereit sind, an das Märchen von den „östlichen Prinzen“ zu glauben, weil sie in ihrem heimischen postsowjetischen Raum auf erniedrigende Weise behandelt werden.
Grundlage für die Anschuldigung waren eine von zwei Zuschauerinnen verfasste Denunziation und ein Gutachten, in dem es hieß, dass die Aufführung „radikalen Feminismus“ verbreite, was so schlimm ist wie „Terrorismus“. Der sogenannte Experte war Roman Silantjew, der sich selbst als Historiker und Islamwissenschaftler bezeichnet, dessen einzige Errungenschaft jedoch eine Pseudowissenschaft ist, die er „Destruktologie“ nennt und die „Risiken auf dem Gebiet der spirituellen Sicherheit“ untersucht. Laut Silantjew widerspricht das Stück der „androzentrischen Lebensweise“ in Russland (es scheint, als ziere er sich, das Wort „patriarchalisch“ zu verwenden).
Von findigen Internetnutzern wurde sofort eine kuriose Tatsache aufgedeckt: Das Stück wurde von der Föderalen Strafvollzugsbehörde zu Bildungszwecken verwendet. Bereits im November 2019 wurde es in der Strafkolonie der Stadt Tomsk von Künstlern des Theaters des Jungen Zuschauers in einer Lesung aufgeführt.
Während der Anhörung am 5. Mai versammelten sich zahlreiche Unterstützer von Berkowitsch und Petrijtschuk in der Nähe des Gerichts. Als die Liste der Bürgen, die garantieren, dass bei den Angeklagten keine Fluchtgefahr besteht, vorgelesen wurde, begann Berkowitsch zu weinen – es waren viele berühmte Namen des russischen Theaters darunter. Es half jedoch nichts, denn der Richter war offensichtlich angewiesen worden, beide Inhaftierten bis zur Anhörung in der Sache – die in zwei Monaten stattfinden soll – in Haft zu halten. Seither haben Unterstützer sich organisiert und die Inhaftierten mit notwendigen Dingen versorgt und dazu aufgefordert, ihnen Briefe zu schreiben. Nach Angaben des Anwalts änderte sich zumindest die Haltung der Wärter, als die ersten Briefbündel im SIZO ankamen. Die Mitarbeiter (hauptsächlich Frauen) sahen sich die Aufführung sogar an – die Aufzeichnung ist im Internet verfügbar – und sagten, sie sei sehr lebensnah. Am 12. Mai wurde ein Antrag auf Umwandlung der Untersuchungshaft in Hausarrest gestellt, über den Ende Mai entschieden werden soll.
Die unerwartete Härte gegen Protagonistinnen der freien Theaterszene, also nicht einmal Mitglieder staatlicher Institutionen, veranlasste die Theaterleute, nach den „versteckten Zeichen“ des Falls zu suchen. Einige erwarteten eine neue Welle der Säuberung in der Theaterlandschaft, andere glaubten, dass dies ein Angriff auf das Golden Mask Festival – wo Finist im vergangenen Jahr ausgezeichnet worden war – sei. Eines ist klar: Es geht nicht um Fakten, sondern um Angst und Demütigung – wie im zweiten aktuellen Fall: dem des Maly-Drama-Theaters (MDT) in St. Petersburg.
Das MDT, das seit vielen Jahren erfolgreich von Lew Dodin (79) geleitet wird, ist ein Tempel der intellektuellen Öffentlichkeit. Dodin gilt als eine der größten – und am besten geschützten – Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Im Februar 2022 veröffentlichte er einen offenen Brief, in dem er sich direkt an Putin wandte: „Stoppt den Krieg!“ Er blieb ohne Antwort und vorerst auch ohne Konsequenzen.
Doch in der Nacht des 5. Mai 2023 wurden die Türen des Theaters mit einem Stück Papier versiegelt und die Vorstellungen für die kommende Woche abgesagt. Es stellte sich heraus, dass der Föderale Dienst für die Überwachung der Verbraucherrechte „Mängel bei der Wand- und Bodenverkleidung im Lagerraum für Reinigungsgeräte, das Fehlen von Markierungen auf Mopps und Eimern“ festgestellt hatte – eine Schließung von bis zu 90 Tagen drohte. Am 11. Mai sollte die Verhandlung stattfinden, aber der Richter verwies den Fall zur weiteren Bearbeitung an die Behörde zurück – und gab den Theatermachern offenbar etwas Zeit zum Nachdenken, was außer Mopps und Eimern noch falsch war. Dafür gab es einen Grund.
Urlaub statt Entlassung
Anfang April wurde ein Schauspieler des MDT, Danijel Koslowski, im Internet von Nationalisten attackiert. Ein Abgeordneter forderte von Kulturministerin Olga Ljubimowa, die Aufführungen, in denen Koslowski auftrat, abzusagen. Anlass war ein Anti-Kriegs-Post, den der Schauspieler im Februar 2022 auf Instagram veröffentlicht hatte. Die Moskauer Staatsanwaltschaft kündigte an, dass sie den Verdacht auf „Diskreditierung der Armee“ prüfen werde. Daraufhin sagte das Theater zwei Aufführungen mit Koslowski im April ab, vermerkte aber auf der Website, dass es dazu „gezwungen“ sei und die Aufführungen auf andere Termine im Mai verlegt wurden.
Das reichte offensichtlich nicht aus, es kam zur kurzzeitigen Schließung und am 15. Mai kündigte Koslowski an, dass er bis Ende 2023 Urlaub nehmen werde. Am 17. Mai befand ein Bezirksgericht in St. Petersburg das MDT für schuldig, Hygienevorschriften und Seuchenschutzmaßnahmen nicht eingehalten zu haben. Der Föderale Dienst für die Überwachung der Verbraucherrechte stellte „zahlreiche Verstöße fest, die das Leben und die Gesundheit von Menschen gefährdeten“. Gegen das Theater wurde eine symbolische Geldstrafe in Höhe von 15.000 Rubel (173 Euro) verhängt – und es öffnete sofort wieder.
Das Theater ist somit glimpflich davongekommen. Die Machtdemonstration der Behörden war zwar deutlich, doch immerhin ließ sich das MDT nicht zwingen, Koslowski ganz zu entlassen. Außerdem kündigte es in den sozialen Medien zusätzliche Aufführungen einiger seiner stärksten Inszenierungen an: drei Produktionen von Tschechow und eine von Ibsen (Ein Volksfeind, was für ein Zufall!) sowie Sondertarife für Studenten, insbesondere der in St. Petersburg so zahlreichen Militärschulen und -einrichtungen.