Theater in Freiburg: Vom It-Girl geträumt, qua Mitläuferin aufgewacht

Der Vorhang hat sich lange noch nicht gehoben, da herrscht an diesem Premierenabend schon Empörung unter den Gästen des Theaters Freiburg. Gibt es denn keine Programmhefte mehr? Doch, es sind die pinken Zettel, die allmählich im Foyer aufblitzen. Vorne Stücktitel und die Namen der Beteiligten, hinten ein Text der Dramaturgin, beim Auseinanderfalten noch ein Produktionsbild, das war’s.

Seit dieser Saison ist Felix Rothenhäusler Intendant des Hauses, und gemäß der Tradition wurde auch hier unverzüglich das Revier mit einem neuen Markenauftritt markiert. Emojis leiten jetzt den Weg durch das Programm, alles ist seltsam selbstironisch und unprofessionell, auf grellem Grund stehen schlechte Sprüche in zusammengestauchtem Arial.

Befreit von Altherrenwitzen

Jungen Erwachsenen ist der Fingerzeig klar: Es ist der Look von „brat“, dem prägendsten Pop-Album des vergangenen Jahres. Die Hörerinnen von Charli XCX sollen wohl zur neuen Zielgruppe des Theaters werden; bloß wird ein solches Haus nicht zum neuen It-Girl der Stadt, nur weil es deren Selbstdarstellung übernimmt. Viel eher wird es zur belächelten Mitläuferin, die in ihrer Anbiederungssucht immer neue Blüten treibt.

Mit der ersten Schauspielpremiere der Saison im großen Haus bleibt man der Linie immerhin treu: Regisseurin Yana Eva Thönnes zeigt eine feministische Lesart von Kleists „Zerbrochnem Krug“, bei der Eve zur selbstermächtigten Erzählerin ihrer Geschichte wird. Thönnes wählt dafür den nicht neuen, aber potentiell wirkungsvollen Kniff des Reenactments, des erzählten Wiedererlebens einer Handlung.

Eve hat also zur seidenseligen Pyjamaparty geladen und nimmt das Ruder in die Hand. In den verteilten Rollen des Kleist’schen Lustspiels wird jetzt ihr Erleben der sexuellen Nötigung durch Richter Adam und die Gerichtsverhandlung nachgespielt. Aber das, wofür Thönnes mit ihrem Regiekonzept eintritt – Fokus auf die weibliche Position, tiefere Charakterprofile –, löst sich hier gerade nicht ein. Über Eve erfahren wir nichts weiter, als dass sie von der Tat traumatisiert ist und kaum darüber sprechen kann. Die Charaktere des Huisum’schen Kosmos werden von den Pyjama-Freundinnen höchstens durch Gesten und Körperhaltungen markiert: Die breitbeinige Sitzposition für die Verkörperung des Dorfrichters, der erhobene Zeigefinger für Gerichtsrat Walter.

Die Befreiung des Texts von allen Altherrenwitzen ist zunächst verständlich, weil man die Gewalt aufzeigen will, die unter dieser Fassade liegt; letztlich macht es die Regie ihrem Publikum damit aber zu einfach, denn jede kognitive Dissonanz, die das Publikum dazu zwingen würde, sich selbst in Beziehung zu den Figuren zu setzen, wird von vornherein aufgelöst.

Lustgetriebene Täterinnen

Warum Eve sich nicht traut zu reden, welche Machtdynamiken sich hier entfalten und warum sexuelle Verbrechen nie bloß privat sein können – all das zeigt Kleist viel deutlicher an, als es Thönnes’ Inszenierung tut. Im Kern ist der Stoff längst weiter, als die Regie es ihm zutraut.

Ein Spielfluss entwickelt sich höchstens für einige Minuten; die Charaktere verbringen viel Zeit damit, apathisch im Schlafzimmer herumzustehen, sich auf dem Boden zu wälzen oder grenzneurotisch ihre immer gleichen Gesten auszuführen. Weil sie in ihrer Zwiegestalt zwischen Huisumer Gerichtssaal und Kinderzimmer in keine Beziehung zueinander treten, wird der Text nicht empfunden, sondern aufgesagt. Diese Schablonenhaftigkeit ist weder berührend noch erschütternd; am ehesten ist der Abend eine „performative Einrichtung“ von Kleists Text.

Thönnes verlässt sich auf die gesellschaftspolitische Aktualität ihres Konzepts, ohne es mit spielerischem Leben zu füllen. Aus dem Bühnenensem­ble sticht Anja Schweitzer als Marthe Rull hervor; sie zeigt die Krugbesitzerin wütend, weil ihrer Tochter irreparables Leid angetan wurde, und auch erschöpft, weil sie um die systemische Dimension dieses Verbrechens weiß, gegen dessen patriarchale Machtstrukturen sie vielleicht vor Gericht, aber nicht im Leben gewinnen kann. Laura Palacios spielt den Richter Adam sichtbar verletzt, physisch beeindruckend wandelbar, seelenmalerisch lässt die Regie aber bei ihm, ebenso wie bei der Eve von Jorid Lukaczik nicht viel zu.

Überzeugend wird die Inszenierung immerhin für den Moment, in dem sie die Folgen der Adoleszenz in einer solchen Machtsphäre über das Trauma hinausdenkt. Mitgerissen von den Machtdynamiken ihres Spiels, werden die Mädchen selbst zu lustgetriebenen Täterinnen. Unter Johlen zerren sie die verstörte Freundin „Chloe“, die zuvor noch den Schreiber Licht gespielt hat, aufs Bett und degradieren sie zum Lustobjekt der Gruppe.

Chloe ist es aber auch, die in ihrer Rolle als Nachbarin Brigitte den gespielten Richter Adam an den Haaren packt und auf die Zehenspitzen zwingt. Dass dazwischen der sexuelle Missbrauch mit greller Lichtshow und scharfen Sounds „re-enacted“ wird, ist nicht schockierend, sondern anstrengend – für Geduld und Trommelfell.

Source: faz.net