„The Boyfriend“ hinauf Netflix: Heile, schwule Reality Fernsehwelt

In Zeitlupe läuft ein junger Mann, von hinten gefilmt, auf ein Haus zu. Kurze, perfekt gestylte Haare, lässige schlichte Kleidung, er schiebt einen großen Koffer neben sich her. Eine Hand öffnet zu den ersten Klavierakkorden eines Popsongs die Haustür. Zwei Männer verbeugen sich mit schüchternem Lächeln leicht zur Begrüßung. Das Meer, Spaziergänge am Strand, ein Coffee Truck, Gespräche über die große Liebe. Nein, das ist kein französischer Arthouse-Film, sondern der Trailer von The Boyfriend, der ersten schwulen japanischen Reality-Show.

Das Konzept ist simpel: Neun (natürlich sehr gut aussehende) Männer zwischen 22 und 36 ziehen in ein Haus am Meer, in der Nähe von Tokio, um in einem Sommer die große Liebe zu finden. Nebenbei betreiben sie einen Coffee Truck, mit dem sie zu zweit oder zu dritt am Strand entlangfahren und an geeigneten Stellen Kaffee verkaufen. Eine regelmäßige Möglichkeit, sich von den anderen getrennt näherzukommen und einander besser kennenzulernen.

Mehrheit für die Ehe für alle

Das war’s, mehr passiert hier nicht. Und genau das macht die Show so gut.

Seit den internationalen Erfolgen von RuPaul’s Drag Race und Queer Eye sind queere Reality-Shows Standard im Fernsehen. In Japan ist es aber immer noch eine Sensation: Es ist das einzige Land unter den G7-Staaten, in dem gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten dürfen. Wenn sich der Teilnehmer Shun gleich in der ersten Folge wünscht, heiraten und Kinder adoptieren zu können, will die Show nicht nur unterhalten. Denn trotz einer klaren Mehrheit von über 70 Prozent für die Ehe für alle in der japanischen Bevölkerung ist es für queere Menschen immer noch kaum möglich, sich auf der Arbeit oder in der Familie zu outen.

Wenig überraschend also, dass The Boyfriend, trotz japanischem Produktionsteam, von Netflix produziert wird und nicht auf einem japanischen Sender läuft. Der Streaminganbieter hat deutlich mehr Erfahrung, wenn es darum geht, queere Lebensrealitäten abzubilden, auch in Reality-Formaten. Und es ist bei Weitem nicht die erste Reality-Show, die Netflix in Japan produziert. 2019 flogen die „Fab Five“ der Make-over-Show Queer Eye für eine Sonderstaffel nach Japan, 2022 erschien die japanische Version von Love Is Blind.

The-Boyfriend-Produktionschef Dai Ota war zuvor bereits am japanischen Reality-Show-Hit Terrace House beteiligt, an den The Boyfriend konzeptuell andockt. Terrace House lief seit 2012 auf Fuji TV in Japan, wurde ab 2015 von Netflix mitproduziert und löste den ersten internationalen Hype um japanisches Reality-TV aus: Sechs sich fremde Menschen, jeweils drei Frauen und Männer, zogen gemeinsam in ein Haus und wurden dort in ihrem relativ normalen Alltag beinahe dokumentarisch begleitet. Statt um übertriebenes, forciertes Drama ging es um das reale Leben junger Menschen – allerdings in einem rückblickend erschreckend heteronormativen Setting. Terrace House war, anders als The Boyfriend, zwar offiziell keine Dating-Show, aber natürlich haben sich auch dort Pärchen gefunden.

Japan macht die besseren Reality Shows

In beiden Shows gehen die Teilnehmer höflich miteinander um, niemand drängt sich in das Zentrum der Aufmerksamkeit; inszenierte Ausraster, die Reality-Shows in Europa und den USA so unerträglich machen, gibt es nicht. Blödsinnige Aufgaben, die die Kandidaten lächerlich machen, fehlen genauso wie ein Preis, um den konkurriert wird. Die Entwicklung der Beziehungen und Freundschaften steht im Vordergrund.

Von Terrace House hat The Boyfriend auch das Konzept eines Comedy-Panels übernommen, das die Ereignisse zwischen den Teilnehmern kommentiert. Fünf Leute aus dem Showbusiness sitzen hier zusammen, unterhalten sich über die Teilnehmer, spielen Szenen komödiantisch übertrieben nach oder überinterpretieren Halbsätze ins Absurde. Zu TerraceHouse-Zeiten gehörte es aber durchaus dazu, sich auch über die Teilnehmer*innen lustig zu machen oder die Bikinitauglichkeit ihrer Figur zu kommentieren.

Einen der TerraceHouse-Kommentatoren, Yoshimi Tokui, hat Netflix auch in das TheBoyfriend-Panel gesetzt. Ansonsten hat sich die Besetzung radikal diversifiziert: Mit der irisch-japanischen Chiaki Horan und Thelma Aoyama, einer Afrojapanerin, sitzen gleich zwei Frauen mit Migrationshintergrund im Panel. Hinzu kommt Durian Lollobrigida, die als japanische Dragqueen insbesondere damit beauftragt ist, den hetero Kolleg*innen und dem Publikum zu erklären, wie schwule Männer daten. Anstatt die Teilnehmer zu kritisieren, versuchen die Kommentatorinnen, deren Verhalten einzuordnen und ihre Gefühle zu verstehen. Es ist kaum zu glauben, wie schön es ist, Menschen zu sehen, die so respektvoll miteinander und den Gefühlen anderer umgehen.

Hasskampagnen im Netz

Im Mai 2020 wurde Terrace House nach dem Selbstmord der Teilnehmerin Hana Kimura eingestellt. Kimura war Opfer einer extremen Hasskampagne im Internet geworden, deren Wirkung durch die pandemiebedingte Isolation noch gesteigert wurde. Die Show hatte seit Jahren Probleme mit einer eigenen Kultur von Online-Hetze. Entsprechend groß waren zur Ankündigung von The Boyfriend die Sorgen, dass sich die Hasskampagnen wiederholen könnten, insbesondere weil die Teilnehmer dieses Mal aufgrund ihrer Sexualität bereits gesellschaftliche Ablehnung erfahren. So krass wie damals ist es bisher nicht geworden, und doch gibt es seit den ersten veröffentlichten Episoden Konsequenzen in den sozialen Medien. Um ein mögliches Pärchen herum hat sich ein Fanclub gebildet, der beide zunehmend aggressiv auf ihren Instagram-Accounts bedrängt, sich zu ihrer möglichen Beziehung zu äußern, und ihnen Vorwürfe für ihr Verhalten macht.

Die Kommentare zeigen allerdings auch: Die Reichweite von Terrace House hat The Boyfriend bisher nicht erreicht. Auch das ausgegebene Ziel, das Bild schwuler Männer in Japan zu verbessern und ihre Lebensrealität zu zeigen, bleibt weitgehend unerfüllt. Nur ein kleiner Anteil der Tweets und Kommentare ist auf Japanisch. Wie soll die Serie Einfluss auf das Bild queerer Menschen in Japan haben, wenn sie die japanische Mehrheit gar nicht erreicht? Die Zuschauer*innen sind meistens entweder international oder Teil der japanischen LGBTQ-Community.

Woran „The Boyfriend“ scheitert

Die Community als solche und auch ihre gesellschaftliche Ausgrenzung kommen in The Boyfriend quasi nicht vor. Die Show kreiert eine geschlossene Blase, bei der die in Teilen homofeindliche Realität draußen bleibt und sich die Zuschauer*innen ganz einem romantischen Eskapismus hingeben können. Manchmal sprechen die Teilnehmer zwar über ihr Leben als schwule Männer, dann geht es aber meistens nur um die Beziehung zur Familie, kaum ein Wort fällt über die systematische Benachteiligung in einer Gesellschaft, die homosexuelle Beziehungen nicht anerkennt, und darüber, welche Auswirkungen das auf queere Paare hat. Teilnehmer Dai nennt es sogar unhöflich, von der Mehrheitsgesellschaft zu erwarten, queere Menschen als Gleichgestellte zu integrieren. Ein Schlag ins Gesicht für die Aktivist*innen, die in Japan teils seit Jahrzehnten für ihre Community kämpfen.

Queer Eye: We’re in Japan war da 2019 deutlich mutiger. Einer der Teilnehmer der Show, Kan, ist ebenfalls schwul. Er erzählt nicht nur von der homofeindlichen Ausgrenzung in Japan, sondern auch von dem Rassismus, den er als Japaner in queeren Communitys in Kanada und Europa erlebt hat. Jeder Moment, den die amerikanischen „Fab Five“ mit Kan teilen, dient dazu, ihm Möglichkeiten zu zeigen, zumindest einen Teil seiner queeren Identität in Japan zu leben. Der wichtigste Hinweis ist, aktiv Teil einer queeren Community zu werden, die die eigenen Erfahrungen teilt und Kan helfen kann, seine Gefühle der Zerrissenheit zu reflektieren.

Queere Aktivist*innen drängen auch in Japan immer stärker in die Öffentlichkeit und streiten politisch und juristisch für Anerkennung und gleiche Rechte. Nur ist in The Boyfriend weder von dieser Gemeinschaft noch von ihrem Kampf und dessen Notwendigkeit etwas zu merken.

Eingebetteter Medieninhalt

The Boyfriend Japan 2024. Alle zehn Folgen sind seit Ende Juli auf Netflix verfügbar