Teuerung | Das Leben ist zu teuer! Das macht die Menschen leiden. Und lässt sie am System zweifeln
Der Mann vor dem Süßwaren-Regal überlegt. Endlich gibt er sich einen Ruck und schiebt den Einkaufswagen weiter. Ein stiller Protest? Resignation aus Geldmangel? Der Discounter Lidl verlangt für eine 100-Gramm-Schokoladentafel Ritter Sport inzwischen 2,29 Euro. Vor der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg kostete sie 89 Cent. Ein Pfund Tchibo-Kaffee, Milde Sorte, stand 2020 mit 4,99 Euro auf dem Kassenbon, jetzt kostet es 7,99 Euro. Das Statistische Bundesamt meldete für August 2025 einen Preisanstieg für Kaffee, Tee und Kakao von 22,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Obst verteuerte sich um 7,1 Prozent, alkoholfreie Getränke um 8,7 Prozent, Rindfleisch um 11,5 Prozent. Doch offiziell beträgt die Inflation in Deutschland nur 2,2 Prozent. Übertreiben die Bürger den Preisauftrieb?
Laut einer Umfrage des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft schätzte die erwachsene Bevölkerung die durchschnittliche Inflationsrate für 2024 auf 15,3 Prozent, sieben Mal höher, als sie gemäß Verbraucherpreisindex tatsächlich war. Ist die „gefühlte Inflation“ ein Hirngespinst, ein deutsches Trauma, das auf der Hyperinflation von 1923 beruht? Oder könnte es sein, dass die Statistik an der Lebenswirklichkeit der Bürger komplett vorbeigeht? Wenn die Inflationsrate sinkt, sinken ja nicht die Preise. Sie steigen nur nicht ganz so schnell wie 2021 und 2022. Aber sie steigen. Fast alles ist unverschämt teuer geworden. (Auf das „unverschämt“ komme ich noch zurück.)
Steigen die Kosten für alltägliche Dinge wie Lebensmittel schneller als das durchschnittliche Haushaltseinkommen, sprechen Ökonomen von einer „Cost-of-Living-Crisis“, einer Lebenshaltungskostenkrise. Diese hat sich im Zuge der Corona-Pandemie nicht nur durch alle Industrieländer, sondern durch sämtliche schmale Geldbörsen der Welt gefressen und die Menschen real ärmer gemacht. Der Lebensstandard sinkt und die Angst setzt sich fest, eines Tages ganz abzurutschen.
Es ist die größte Angst der Deutschen
Die Langzeitstudie der R+V-Versicherungen, die seit 1992 „die Ängste der Deutschen“ ermittelt, stellte kürzlich fest, dass „die Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten“ seit 2022 unangefochten Platz 1 belegt. Auf Platz 3 findet sich die Angst vor Steuererhöhungen und Leistungskürzungen, auf Platz 4 die Sorge, die Miete oder den Hauskredit nicht mehr bedienen zu können. Mit 15 Platz-1-Nominierungen seit 1992 ist die Inflationsangst die alles beherrschende Sorge. Da man Preise, Abbuchungen vom Konto oder Rechnungen täglich vor Augen hat, ist der psychische Stress hier am folgenschwersten.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde registriert bereits seit der Finanzkrise eine rapide Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen. Seit 2019 haben sich Depressionen und Angstsymptome fast verdoppelt, vor allem Frauen, jüngere Menschen und Bürger mit niedrigen Bildungsabschlüssen seien davon betroffen. Auch Schlafstörungen und Selbstverletzungen nehmen zu. Die Zahl der Selbstmorde stieg 2022 erstmals seit 2015 wieder über 10.000.
Verarmung ist oft schwer zu erkennen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen registrierte laut „Child Nutrition Report 2025“ erstmals mehr fettleibige als untergewichtige Kinder, was auf schlechte Ernährung durch hochverarbeitetes, nährstoffarmes und preiswertes Junkfood zurückzuführen ist.
Ein Fünftel der Bevölkerung kann sich keinen einwöchigen Urlaub leisten
Wie stark Menschen sparen müssen, um ihren Lebensstandard halten zu können, zeigen einige Meldungen aus den vergangenen Wochen. Fast ein Drittel der Bevölkerung lebte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2024 in Haushalten, die aufgrund ihrer finanziellen Lage „unerwartete Ausgaben“, etwa für die Autoreparatur oder den Kauf einer Waschmaschine, nicht stemmen können. 21 Prozent der Bevölkerung lebten in Haushalten, die sich keine einwöchige Urlaubsreise leisten können.
4,2 Millionen Menschen sind mit der Bezahlung ihrer Strom- und Gasrechnung im Rückstand, 42 Prozent der 19 Millionen Rentner bekommen nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums weniger als 1.000 Euro Rente im Monat und können sich Zuzahlungen bei Hilfsmitteln und Medikamenten nicht leisten, drei Millionen sind auf ergänzende Grundsicherung angewiesen. Studenten müssen für ein WG-Zimmer heute im Durchschnitt 505 Euro bezahlen, 21 Prozent mehr als 2020. In den Großstädten Berlin und Hamburg sind es über 620 Euro. Ohne Nebenjob als Pizzabote, Kellner, Lagerarbeiter oder Nachhilfelehrer hängen Studierende wieder am Geldbeutel der Eltern.
Und was kostet in diesem Jahr die Maß Bier auf dem Münchner Oktoberfest? Im Durchschnitt 15,25 Euro, ein halbes Hendl 24,50 Euro, eine Leberkäsesemmel 10 Euro, ein Liter Wasser 11 Euro. Auch Restaurants und Cafés halten sich an den Kunden schadlos, trotz Mehrwertsteuersenkung. Reichten vor der Pandemie 10 Euro für zwei Tassen Kaffee und zwei Stück Kuchen, muss man heute mit dem doppelten Betrag rechnen.
Kein Wunder, dass Menschen auf Treffen mit Freunden, auf Kneipenbesuche und Sport „lieber“ verzichten und still vereinsamen. Es ist ihnen peinlich, sich bestimmte Sachen nicht mehr leisten zu können. Die notwendigen Ausgaben lassen kaum Geld zur freien Verfügung. Heizmaterial, Benzin, Reparaturen, Versicherungen, Bankgebühren, Arztzusatzkosten, Schulmaterial – das alles ist, trotz Gaspreisbremse und anderer „Entlastungen“, bis zu 80 Prozent teurer als 2020. Unverschämt viel teurer!
Denn zahlreiche Unternehmen nutzen die Inflation als Vorwand, um die Preise künstlich in die Höhe zu treiben und so ihre Gewinne zu steigern. Die Marktkonzentration im Einzelhandel, aber auch im Energiesektor verschafft Lebensmitteldiscountern und Öl- und Gaskonzernen eine nahezu diktatorische Preismacht. Ihre Gewinnmargen lagen nach 2020 deutlich über jenen vor der Covid-Pandemie und dem Ukrainekrieg. Das Vermögen deutscher Milliardäre wuchs währenddessen um 20 Prozent.
Die Inflation ist eine Gierflation der Konzerne
Der Internationale Währungsfonds (IWF) errechnete im Juni 2023, dass fast die Hälfte der Unternehmensgewinne im Euroraum der „Gierflation“ (englisch: greedflation) geschuldet war, nur 40 Prozent basierten auf dem Anstieg der Energie- und Produktionskosten. Vor allem Big Oil und Tech-Konzerne scheffelten Extragewinne. Auf dem Höhepunkt der Geldentwertung im Herbst 2022 verzeichnete Großbritannien eine Inflationsrate von knapp 20 Prozent, in Deutschland kletterte sie mit 11,7 Prozent auf die höchste seit fast 50 Jahren. Die Reallöhne konnten damit nicht Schritt halten, die Renten sowieso nicht.
Aber für die Regierenden ist Inflation kein Thema. In keinem Wahlkampf spielen Preise und Kaufkraft eine Rolle. Und das, obwohl 2024 ausnahmslos alle Regierungen bei Wahlen Stimmen verloren. Unverfroren glauben sie, mit ein paar „Rettungsschirmen“ und „Entlastungspaketen“ würde sich das Problem schon verflüchtigen. Hier ein kleiner Energiepreiszuschuss, dort eine temporäre Steuersenkung, doch in Wahrheit türmen sie Staatsschulden auf.
Sie verschieben die Probleme mit immer gewaltigeren Kreditaufnahmen und Sondervermögen in die Zukunft, in der Hoffnung, Wirtschaftswachstum und Geldentwertung würden das Schuldenproblem irgendwann von selbst lösen. Doch die Menschen haben das Vertrauen verloren. Sie sehen die nächste Krise bereits am Horizont: Stagflation und massiven Kontrollverlust bei den Regierungen.
Die Verschuldung verstört, aber bei den Menschen kommt nichts an
Allein die drei Corona-Hilfsprogramme der USA umfassten 6,3 Billionen US-Dollar, die nachfolgenden Maßnahmen, etwa der „Inflation Reduction Act“ und die Investitionen in Infrastruktur und Halbleiter-Produktion mobilisierten weitere 2,3 Billionen. Dagegen nehmen sich die Rettungspakete während der Finanzkrise mit 1,6 Billionen fast ärmlich aus. Mittlerweile liegen die Staatsschulden der USA bei gespenstischen 37,5 Billionen Dollar, sie könnten bis 2035 auf 50 Billionen wachsen. Bereits heute muss die Regierung jährlich eine Billion Dollar für Zinsen aufbringen, das ist mehr, als die USA für ihr Militär ausgeben.
Auch der Euro-Rettungsschirm, der 2012 in den Europäischen Stabilitätsmechanismus überging, mobilisierte 1,5 Billionen Euro an Notkrediten und Bürgschaften. In der folgenden Coronakrise stellte die Europäische Zentralbank über ihr Notfallprogramm PEPP gut 1,8 Billionen Euro für den Ankauf von Wertpapieren bereit. Der Corona-Wiederaufbaufonds der EU gewährte Kredite von 360 und Zuschüsse von 390 Milliarden Euro. Die Zuschüsse fließen vor allem nach Süd- und Osteuropa, eine Kontrolle über die Mittelverwendung findet kaum statt. Auch bei der EU zeigt der Schuldenstand steil nach oben, ab 2028 sollen die Kredite getilgt werden, wie ist noch unklar. Die Kommission träumt von Digital- und Plastiksteuern zur Finanzierung. Allein die Zinsen werden bis 2058 auf 230 Milliarden Euro steigen.
Läuft es national besser? Deutschland hat durch die hohen Kosten der Deutschen Einheit, durch Finanz-, Corona-, Energie- und Bundeswehrkrise mittlerweile 2,7 Billionen Euro an Schulden angehäuft. Die seit 2020 beschlossenen Corona-Steuerhilfeprogramme, Schutzschirme, Sondervermögen, Rettungs- und Entlastungspakete schlagen mit 600 Milliarden zu Buche. Entlastet fühlen sich die Menschen dennoch nicht. Im Gegenteil: Sie sollen den Gürtel enger schnallen. Wie kommt es nur, fragen sich die jeweiligen Regierungsparteien, dass die AfD stetig zulegt?
Als der Euro-Rettungsschirm für überschuldete EU-Staaten im Mai 2010 in Kraft trat, rückte in der oben erwähnten Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ eine ganz bestimmte Furcht in den Vordergrund: die Angst, die Schuldenkrise der EU werde die deutschen Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Fünf Jahre lang, von 2011 bis 2015, hielt sich das flaue Gefühl auf Platz 1 des nationalen Angstbarometers. Es lieferte 2013 den entscheidenden Anstoß zur Gründung der AfD. Denn die Schuldeninflation und die Angst vor dem eigenen Absturz sind die eigentlichen Motive der AfD-Wähler, nicht Gendersternchen, Regenbogenfahnen oder Kopftücher. Der Aufwärtstrend der AfD korreliert mit Schulden und Preisen.