Syrienwahl: „Ich lehne diese Abstimmung genau wie die neuen Machthaber ab“
Am heutigen Sonntag finden in vielen Teilen Syriens Parlamentswahlen statt. Es sind die ersten seit dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad. Trotzdem sind sie umstritten, denn die Kandidatinnen und Kandidaten werden nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von speziellen Wahlmännern und -frauen. Diese wurden vorher von einem Wahlkomitee ausgesucht, das vom neuen Präsidenten Ahmed al-Scharaa zusammengestellt wurde. Hier erzählen vier Syrerinnen und Syrer, wie sie auf den heutigen Wahltag schauen.
„Syrien befindet sich gerade in einer Übergangsphase“
Mohammad Wali, 38 Jahre, organisiert als Mitglied des staatlichen Wahlkomitees die Abstimmungen in Idlib. Er hat Politikwissenschaften und Internationales Recht studiert.
„Es macht mich stolz, heute die vielen Parlamentsschaftestkandidatinnen und -kandidaten zu sehen und ihren Ideen zuzuhören. Ich glaube an eine bessere Zukunft, an ein freies Syrien und sehe die heutigen Wahlen als wichtigen Schritt in diese Richtung.
Als Mitglied des staatlichen Wahlkomitees organisiere ich die Abstimmungen in der Region Idlib. Präsident Ahmed al-Scharaa hat mich mit dieser Aufgabe betraut, genau wie die anderen Mitglieder des Komitees. Die letzten zwei Tage habe ich vor allem damit verbracht, zu überprüfen, ob alles seine gesetzliche Richtigkeit hat. Ich habe zum Beispiel sichergestellt, dass alle Wahllokale mit den richtigen Wahlurnen ausgestattet sind – die sind transparent und versiegelt. Auch die Auswahl der Wahlmänner, die die Kandidatinnen und Kandidaten wählen, gehörte zu den Aufgaben unseres Komitees.
Ich weiß, dass die heutigen Wahlen etwas ungewöhnlich sind. Wir dürfen nicht vergessen: Syrien befindet sich gerade in einer Übergangsphase. Jahrzehnte des Krieges haben ihre Spuren hinterlassen. Viele Syrerinnen und Syrer haben zum Beispiel keine gültigen Papiere, mit denen sie ihre Wahlberechtigung nachweisen könnten. Es wäre zum jetzigen Zeitpunkt unfair, eine direkte Volkswahl durchzuführen, da so viele Menschen ausgeschlossen wären. Deshalb haben wir das Verfahren mit den Wahlmännern eingeführt. Zu einem späteren Zeitpunkt wird die Regierung ein neues Wahlrecht einführen. Dann wird es freie, direkte Wahlen geben.
Ich bin syrischer Kurde und verstehe, dass Minderheiten geschützt werden müssen. Natürlich bekommen wir mit, dass einige bedroht werden. Deshalb tut die Regierung ihr Bestes, sie zu schützen. Und wir, das Wahlkomitee, haben bei der Auswahl der Wahlmänner darauf geachtet, dass Vertreter der Minderheiten repräsentiert sind. Sollten die Kandidatinnen und Kandidaten, die sie wählen, die Bevölkerung trotzdem nicht gut repräsentieren, gibt es ja noch das Drittel, das von Präsident Al-Scharaa ausgewählt wird. Er wird sicherstellen, dass das Parlament alle Bevölkerungsgruppen repräsentiert und es zum Beispiel auch genug weibliche Abgeordnete gibt.“
„Die Wahlen sind eine Farce“
Saber Alrawas, 39 Jahre, wohnt in der Region Suwaida im Süden Syriens. Im Juli kam es dort zu schweren Kämpfen zwischen drusischen und sunnitischen Milizen. Letztere wurden von Mitgliedern der syrischen Regierung unterstützt. Obwohl offiziell eine Waffenruhe gilt, bleibt die Lage instabil. In der gesamten Provinz Suwaida finden keine Wahlen statt.
„Die Wahlen sind eine Farce! Selbst wenn das Ergebnis später von irgendwelchen internationalen Organisationen anerkannt werden sollte. Für mich ist die Abstimmung nichts anderes als der verzweifelte Versuch der neuen Regierung, sich ein demokratisches Antlitz zu geben. Allein der Fakt, dass der Präsident Ahmed al-Scharaa ein Drittel des Parlamentes selbst aussucht, beweist, dass es nicht demokratisch zugeht. Mit dieser Regelung kann er jede zukünftige Entscheidung des Parlaments kontrollieren. Auch die Tatsache, dass nicht in allen Teilen des Landes gewählt wird – so wie hier in Suwaida –, zeigt, dass die Wahlen nicht legitim sind.
Meine Meinung über die neue Regierung war nicht immer so schlecht. Nach dem Sturz von Assad habe ich mich mit einigen einflussreichen Politikern und Intellektuellen der Region zusammengetan, um den Dialog mit den neuen Machthabern zu suchen. Viele Syrerinnen und Syrer waren damals wegen Al-Scharaas Vergangenheit bei Al-Kaida verunsichert und befürchteten ein islamistisches Regime. Ich fand: Wir sollten ihnen eine Chance geben. Seit Juli sehe ich das anders. Die furchtbaren Massaker an den Bewohnerinnen und Bewohnern meiner Heimat haben mich tief schockiert. Genau wie die Gewaltverbrechen der Regierungsanhänger in der Küstenregion. Al-Scharaas Männer haben ihr wahres Gesicht gezeigt: Sie sind Terroristen, die Unschuldige töten, um nach ihrem Verständnis in den Himmel zu kommen. Für mich hat diese Regierung jegliche Legitimität verloren.
Die aktuelle Situation in Suwaida und im Süden Syriens schmerzt mich. Meine Heimat erlebt die dunkelsten Stunden ihrer Geschichte. Wir trauern um Hunderte Getötete, viele von uns sind seit den Massakern traumatisiert. Noch dazu versucht die israelische Regierung, unsere Situation für ihre politischen Zwecke zu nutzen, indem sie behauptet, mit Luftangriffen uns Drusen zu unterstützen. Forderungen nach einer autonomen Region Suwaida unterstütze ich nicht. Stattdessen wünsche ich mir für ganz Syrien ein föderales Regierungssystem, in dem jede Region eigene Entscheidungen für dich treffen kann.“
„Wichtiger als die heutige Wahl sind mir andere Themen“
Dalal Khaled*, 17 Jahre, ist Schülerin aus Aleppo. Die Stadt im Norden ist die zweitgrößte des Landes und gilt als wichtiges Wirtschaftszentrum.
„Seit dem Sturz von Assad interessiere ich mich brennend für Politik und lese jeden Tag Nachrichten. Selbstverständlich werde ich auch die Wahl heute verfolgen. Unter Assad war das syrische Parlament absolut nutzlos. Die Politikerinnen und Politiker haben den Leuten Geld oder Lebensmittel gegeben, damit sie von ihnen gewählt werden, nur um dann als Abgeordnete ohne Macht rein gar nichts für unser Land zu tun. Ein kleiner Teil von mir hofft, dass es diesmal anders wird. Ich wünsche mir, dass die neuen Abgeordneten ihre Rolle ernst nehmen.
Dass wir heute nicht selbst wählen können, stört mich nicht so sehr. Wir befinden uns noch in der fünfjährigen Übergangsphase. Die Politiker, die gerade entscheiden, sind nicht die, die langfristig das Land führen sollen. Wichtiger als die heutige Wahl sind mir andere Themen: Zum einen muss sich das Mindset vieler Menschen ändern. Es gibt das Vorurteil, dass alle, die unter Assad in Syrien geblieben sind, seine Anhängerinnen und Anhänger waren. Das stimmt nicht. Viele – so auch meine Familie – hatten keine andere Wahl. Wir haben unter der Diktatur gelitten und fanden sie nicht gut.
Zum anderen ist da das Thema Sicherheit. Wie viele Menschen in Syrien habe ich Angst. Mit dem Sturz von Assad ist ein Machtvakuum entstanden, das radikale Gruppen nutzen können. In den Tagen nach dem Sturz dachte ich, ich würde nun alles verlieren. Ich bin Sängerin und trete regelmäßig in Konzerten auf. Ich hatte Angst, dass die neuen Machthaber Frauen das Singen verbieten könnten. Oder dass ich nicht mehr zur Schule gehen darf. Die Worte der Machthaber und der Glauben, dass die internationale Gemeinschaft uns nicht im Stich lassen wird, haben mich getröstet. Seit den Massakern an Drusen und Alawiten und seit dem Terrorangriff auf die Kirche in Damaskus ist das anders. Ich mache mir große Sorgen. Seit ich ein Kleinkind bin, ist mein Leben geprägt von Krieg und Gewalt, ich sehne mich einfach nur nach Sicherheit.“
„Ich fühle mich einfach nur verraten“
Nour al-Haddad*, 40 Jahre, ist Französischlehrerin aus Damaskus. Sie gehört der Minderheit der Alawiten an, aus der auch die ehemalige Dikatorfamilie Assad stammt. Seit dem Umsturz kommt es immer wieder zu gezielten Tötungen von Alawiten.
„Ich habe per Zufall auf Facebook von den Wahlen heute erfahren. Sie interessieren mich aber auch nicht. Ich werde weder das Ergebnis noch die Namen der Parlamentskandidatinnen und -kandidaten googeln, denn ich lehne diese Abstimmung genau wie die neuen Machthaber ab. Die meisten Alawiten denken so wie ich. Wie sollen wir dieser Regierung auch vertrauen? Sie gibt uns keinerlei Garantien, dass unsere Rechte in Syrien geschützt werden.
Seit dem Sturz von Assad hat sich mein Leben komplett verändert. Ich habe früher als Französischlehrerin an einer Privatschule in Damaskus gearbeitet. Damaskus war mein Zuhause, ich habe mich dort sicher gefühlt und hatte auch sunnitische Freundinnen und Freunde. Dann kam der Umsturz. Uns war gleich klar, dass Alawiten nun als Sündenböcke herhalten müssen. Das Haus meines Bruders in Damaskus wurde von einer Gruppe Sunniten gestürmt. Sie stahlen seinen Laptop und zerstörten seine Möbel. Mit dabei waren auch ehemalige Freunde von ihm. Das war ein absoluter Schock. Auch ich habe Freunde, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Ich habe sie gefragt, ob sie mich früher auch als Alawitin gesehen haben? Ob sie glauben, dass ich eine Anhängerin Assads gewesen sei oder warum sie plötzlich ihre Meinung über mich geändert haben? Viele haben mir noch nicht mal geantwortet, andere sagten, die Zeit der Alawiten sei nun vorbei. Ich fühle mich einfach nur verraten.
Als Frau machen mir die neuen Machthaber, die früher Teil von Al-Kaida waren, besonders Angst. Ich höre immer wieder, dass Frauen gekidnappt werden. Deshalb habe ich Damaskus verlassen und wohne jetzt in einem Dorf bei Tartus. Hier fühle ich mich sicherer, habe aber keine Arbeit mehr. Ich fühle mich nutzlos. Ich habe angefangen, Französischvokabeln zu vergessen. Wenn sich die Regierung nicht ändert, überlege ich, Syrien zu verlassen.“
*aus Angst vor der aktuellen syrischen Regierung wollten einige Protagonistinnen ihre echten Namen nicht veröffentlicht sehen. Die Namen und die Identität aller Gesprächspartnerinnen sind der Redaktion bekannt.