Supreme Court: Operation Höchstes Gericht

Operation Höchstes Gericht – Seite 1

In Washington geht ein arbeitsames Jahr zu Ende, auch für den Supreme Court. Das höchste Gericht der Vereinigten Staaten hat in den vergangenen Monaten zahlreiche Entscheidungen vorgelegt, die tiefgreifende Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben. Es schaffte das grundsätzliche Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch wieder ab, liberalisierte das Waffenrecht, weichte die Trennung zwischen Staat und Kirche auf und verbot den Regierungsbehörden, CO₂-Grenzwerte festzulegen. Zynisch gesprochen: 2022 war ein erfolgreiches Jahr für jene, die den Fortschritt dieses Landes mit allen Mitteln zu verlangsamen versuchen.

Reverend Robert Schenck war mal einer von ihnen. Der evangelikale Pfarrer ging so weit, dass seine Organisation wohlhabende christliche Ehepaare dafür bezahlte, sich mit Richterinnen und Richtern am Supreme Court anzufreunden und ihnen – häppchen- und sektchenweise sozusagen – ihre Weltsicht einzuflößen. Man habe sie „in ihrer Entschlossenheit bestärken wollen, solide und unumstößliche Urteile zu fällen“, sagte Schenck, als er am Donnerstag über diese „Operation Höchstes Gericht“ vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses aussagte. Inzwischen hat er sich distanziert von der religiösen Rechten der USA und spricht offen darüber, mit welchen Methoden deren Vertreter versuchen, ihre Agenda bis in den Supreme Court zu tragen. Es sei ein „faustischer Pakt“ gewesen, in dem seine Glaubensbewegung sich mit der Republikanischen Partei befunden hätte, sagte Schenck im Kongress.

Vorgeladen war Schenck von den Demokraten, die bis zur Neuzusammensetzung des Kongresses im Januar noch die Mehrheit im Repräsentantenhaus haben und diese Zeit nutzen wollen, um im Parlament aufzuarbeiten, wie unabhängig die Mitglieder des Supreme Courts eigentlich sind. Dabei geht es nicht nur um einen möglichen Verhaltenskodex und die Annahme von Geschenken und Gefälligkeiten, wo die Verfassungsrichterinnen – im Gegensatz etwa zum Kongress oder Gerichten auf niedrigerer Ebene – kaum Beschränkungen unterliegen. Sondern darum, wie einfach Leute wie Schenck auf die Entscheidungen des Gerichts Einfluss nehmen können. Und welcher Schaden dadurch bereits entstanden ist.

Der Staat soll sich nicht einmischen

Seit Langem träumt die Rechte – besonders, aber nicht nur religiös konnotiert – in den USA von einer ihr wohlgesonnenen Mehrheit am Supreme Court. Mit Donald Trumps Präsidentschaft kam diese Gelegenheit: Trump konnte gleich drei frei werdende Stellen besetzen. Zuvor hatten die Republikaner im Kongress verhindert, dass Barack Obama seine verbleibende Amtszeit noch nutzen konnte, um einen liberalen Richter zu ernennen. Der Supreme Court fällt unter dieser Neubesetzung nun eine Entscheidung nach der anderen, die mit der Mehrheitsmeinung der US-Amerikaner nicht viel zu tun hat, sehr wohl aber mit der Agenda einer Minderheit: Dank des Wahlsystems der USA haben die Republikaner auf Staatenebene wie auch im Kongress stärkere Repräsentation, als sie eigentlich rein aufgrund der Zahl ihrer Wählerstimmen haben müssten. All diese Entscheidungen eint der Tenor: Der Staat hat sich möglichst wenig einzumischen.

Das allerdings wird kaschiert mittels eines Trends, der immer klarere Konturen annimmt: Entscheidungen sollen „zurückgegeben“ werden an die einzelnen Bundesstaaten. Das, so wird etwa in der Entscheidung über die Aufhebung des Grundsatzurteils Roe versus Wade zum Recht auf Schwangerschaftsabbrüche suggeriert, sei ganz im Sinne der Demokratie, indem die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten – gewählte Volksvertreter – mehr Entscheidungsgewalt bekämen.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber: Der Bundesebene, also dem Präsidenten und dem Kongress, soll diese Entscheidungsgewalt künftig fehlen. Und genau darum geht es. Während die Republikaner die letzte Wahl verloren haben und auch bei den Zwischenwahlen weit hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben sind, sitzen sie noch in einer Mehrzahl der Bundesstaaten in der Regierung.

Eine der heikelsten Fragen, über die das Gericht wohl je entschied

Hier kommt dem Supreme Court eine entscheidende Rolle zu. Nicht nur, weil der Weg zum Ohr der Richterinnen und Richter so einfach ist, wie Schenck es schildert. Sondern auch, weil diese demnächst über einen Fall entscheiden wollen, der sich genau darum dreht: um das Verhältnis von Mehrheiten und Macht.

In dieser Woche fand die erste Anhörung zum Fall Moore vs. Harper statt. Darin geht es um einen Zuschnitt von Wahlbezirken, den die republikanisch dominierte Legislative des Bundesstaats North Carolina erstellt hatte. Obwohl die Wählerschaft dort etwa zur Hälfte demokratisch wählt, würde die Karte den Republikanern in der Praxis zehn der 14 Sitze im Repräsentantenhaus zugestehen. Der oberste Gerichtshof des Bundesstaats stellte fest, dass das nicht mit der Verfassung von North Carolina vereinbar sei, und ersetzte die Karte durch eine mit gerechterer Aufteilung der Wahlkreise. Über die Berufung dieser Entscheidung soll nun der Supreme Court urteilen.

Was auf den ersten Blick wie ein Gerangel darum wirkt, welche Partei im Vorteil ist, birgt eine der heikelsten Fragen, über die der Supreme Court wohl je entschieden hat: Wer entscheidet zukünftig darüber, unter welchen Voraussetzungen eine neue US-Regierung gewählt wird? Wessen Stimme wird noch zählen, und wer bestimmt darüber? Gäbe das Gericht den klagenden Republikanern aus North Carolina recht, es wäre ein Präzedenzfall dafür, dass niedere Gerichte wie in diesem Fall das Verfassungsgericht des Bundesstaats solchen „Reformen“ von Wahlkreisen keinen Einhalt mehr gebieten könnten.

Im Widerspruch zum Föderalismus

Flankiert wird das Gesuch aus North Carolina von einem Konzept, das als Independent State Legislature (ISL) bekannt geworden ist. Seine Verteidiger argumentieren, dass die US-Verfassung ausschließlich die Gesetzgeber der Bundesstaaten ermächtige, bundesweite Wahlen zu regeln, ohne dass die Gerichte der einzelnen Bundesstaaten eine Rolle spielen. Die Demokraten wie auch viele Experten weisen diese Lesart zurück: Sie stehe im Widerspruch zum Grundsatz des Föderalismus, auf dem die USA gründen.

Der Fall mobilisiert Koalitionen, die bis vor Kurzem noch undenkbar schienen. Michael Luttig, einer der prominentesten konservativen Richter der USA, hat sich aus dem Ruhestand zurückgemeldet, um als Teil eines Teams von Anwälten den Fall Moore vs. Harper vor dem Supreme Court zu vertreten. Es sei „der bedeutsamste Fall für die US-amerikanische Demokratie seit der Staatsgründung“, sagte er im Gespräch mit dem New Yorker. Luttig, der sein Leben lang den Republikanern nahestand, bekämpft sie nun – auch unter dem Eindruck der Geschehnisse rund um den 6. Januar 2021. Der damalige Vizepräsident Mike Pence ließ sich von ihm juristisch beraten. 

Damals versuchte Donald Trump, in einzelnen Bundesstaaten führende Republikaner sowie Pence dazu anzustiften, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen, sodass am Ende nicht Joe Biden zum Präsidenten gewählt würde, sondern er selbst. Dass das schiefging, war am Ende auch Pences Weigerung (und Luttig) zu verdanken. Aber die Bedrohung – dass Trump wieder antritt und willige Helfer für einen zweiten Versuch einer solchen Manipulation haben könnte – bleibt. Und der Supreme Court könnte dazu nun eine Art verfassungsrechtlichen Segen sprechen, gäbe er den Republikanern in North Carolina recht.

Ein luftleerer Raum

Allein, dass er den Fall annahm, ließ diese Sorge konkret werden. In der Verhandlung in dieser Woche zeichnete sich jedoch ab, dass selbst ein Gericht mit einer so eindeutigen rechtskonservativen Mehrheit hier eine Grenze sehen könnte. Die beiden von Trump ernannten Richter Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett sowie der Vorsitzende Richter John Roberts, eigentlich alle drei Teil der konservativen Mehrheit, signalisierten Offenheit gegenüber einem Kompromiss, anstatt den Republikanern aus North Carolina und ihrem ISL-Argument recht zu geben. Der könnte etwa so aussehen, dass man entscheidet, dass Verfassungsgerichte einzelner Bundesstaaten solche Karten zwar noch kassieren dürfen, aber nicht korrigieren.

Nur würde das im Zweifelsfall zu einem luftleeren Raum ohne klare Entscheidungshoheit führen. Und wäre, so argumentiert die Verfassungsrechtlerin Kate Shaw, trotzdem ein fataler Teilsieg für die ISL-Fraktion:  „Jede Entscheidung, die es Bundesgerichten erlauben würde, sich in die Aufsicht staatlicher Gerichte über staatliche Verfassungsbestimmungen einzumischen, wenn es um das Wahlrecht geht, wäre enorm problematisch“, schreibt Shaw.

Erwartbarer ist die Tendenz in einem anderen Fall, der ebenfalls diese Woche vor dem Supreme Court verhandelt wurde. Während der Kongress gerade das Recht auf die Ehe für alle in einem Bundesgesetz festschreibt und so gegen eine mögliche Rückwärtswendung des Supreme Courts absichern will, klagt eine Webdesignerin aus dem Bundesstaat Colorado. Sie weigert sich, Hochzeitswebsites zu entwerfen, auf denen eine gleichgeschlechtliche Ehe gefeiert wird. Das sei mit ihrem christlichen Glauben unvereinbar. Das Gericht soll nun entscheiden: Verstößt sie damit gegen das Diskriminierungsverbot, das in Colorado wie in vielen anderen Bundesstaaten gilt? Oder fällt es unter die Meinungsfreiheit, solche Anfragen abzulehnen?

Die sechs konservativen Richter ließen Sympathien mit der Klägerin erkennen. Und auch hier reichen die Folgen weiter, als es auf den ersten Blick scheint: Was wäre, wenn nun jemand anderes keine Paare mit Behinderungen bedienen wollte, weil er der Meinung sei, diese sollten nicht heiraten? Oder keine Schwarzen? Oder keine Paare jüdischen Glaubens?

Entscheidungen in beiden Fällen werden nicht vor dem kommenden Sommer erwartet. Die Zustimmungswerte des Gerichts fielen derweil auf ein historisches Tief, nur noch 47 Prozent der Bürgerinnen haben Vertrauen in die Arbeit des Supreme Courts. Das sind rund 20 Prozentpunkte weniger als noch vor zwei Jahren. Aber auch wenn das Gericht sich zunehmend als politisches Organ zu verstehen scheint: Es lässt sich, anders als diejenigen, die diesen Geist riefen, nicht einfach abwählen.