Streiks in Deutschland und Frankreich: Das heiße Frühjahr

Ein Generalstreik ist es noch nicht, bei Weitem nicht, formal sogar nur ein Warnstreik. Aber was die Gewerkschaften für diesen Montag planen, ist in der Geschichte der Bundesrepublik ziemlich einmalig: Sie wollen die öffentlichen Verkehrsmittel im ganzen Land lahmlegen. Die Deutsche Bahn stellt ihren Fernverkehr komplett ein. Nicht mal einen Notfahrplan soll es geben, anders als sonst üblich.

Das Ganze erinnert stark an die gegenwärtigen Verhältnisse in Frankreich, wo die Gewerkschaften ebenfalls angekündigt haben, das gesamte Land stillstehen zu lassen. Jenseits des Rheins fällt schon seit fast drei Wochen ein erheblicher Teil der Zugverbindungen aus, und Autofahrer bekommen an manchen Tankstellen kein Benzin mehr, weil auch Raffinerien bestreikt werden.

Hierzulande geht es um schnöde Tarifverhandlungen, in Frankreich um die Rentenreform und den als selbstherrlich empfundenen Regierungsstil des Präsidenten. Streiks um Lohnerhöhungen hatte es im Nachbarland im alten Jahr schon gegeben. Aber der Impuls, warum es gerade jetzt zu Protesten kommt, ist auf beiden Seiten ähnlich. Er hat mit einer gewissen Schizophrenie der gegenwärtigen Lage zu tun, die als gut und schlecht zugleich empfunden wird.

Am hartleibigsten zeigen sich die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst

Schlecht sind erst einmal die Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel, die gerade die Bezieher kleinerer Einkommen schmerzlich spüren. In Deutschland wurden sie durch üppige Preisbremsen und andere Hilfen abgemildert. In Frankreich ist die Inflation ein viel größeres Thema, vergleichende Werbung der Supermarktketten inklusive, mit ausdrücklichem Verweis auf die Preissteigerungen bei der Konkurrenz.

Protest gegen die französische Rentenreform in Marseille : Bild: Imago

Als gut empfunden wird hingegen derzeit noch die allgemeine wirtschaftliche Lage, angetrieben auch durch den stabilen Konsum: Wer nicht mit jedem Cent rechnen muss, der gibt sein Geld derzeit lieber aus, statt dem Wertverfall auf dem Bankkonto zuzuschauen. Das führt aber dazu, dass Beschäftigte wie potentielle Rentenempfänger gar nicht einsehen, warum sie sich irgendwie einschränken müssten. Sollen doch die Reichen mehr Steuern zahlen, sagen die Gegner der französischen Rentenreform, darunter auch viele jüngere Leute. Die Kommunen haben doch zuletzt Überschüsse erwirtschaftet, rufen die deutschen Gewerkschaften, da brauchen sie doch nicht an Gehältern für Erzieher und Müllfrauen zu knausern.

Ist das also jetzt der ins Frühjahr verschobene „heiße Herbst“, den interessierte Kreise von Sahra Wagenknecht bis Wladimir Putin vor einigen Monaten herbeisehnten? Wohl kaum. Dafür ist die empfundene Lage noch immer zu gut, sind auch die Themen in Deutschland und Frankreich zu verschieden. Ein erstes Anzeichen dafür, dass die politische Lage schwieriger wird und die ökonomischen Verteilungskämpfe härter werden, sind die Streiks und Proteste aber durchaus.

Bemerkenswert ist dabei das Ost-West-Gefälle. Je weiter ein Land geographisch von Russland und seinen früheren Gaslieferungen entfernt ist, desto niedriger fällt im Schnitt die Inflationsrate aus. Desto größer ist aber im Allgemeinen die Unruhe, die durch die Preissteigerungen ausgelöst wird. So empfinden die meisten Balten eine Teuerung von teilweise über 20 Prozent mehrheitlich als den Preis der Freiheit, den sie zu bezahlen bereit sind. Im fernen Portugal oder in Großbritannien hingegen hatten zuletzt selbst geringere Inflationsraten heftige Tarifkämpfe ausgelöst.

Eines allerdings ist in den meisten europäischen Ländern ähnlich: Am hartleibigsten zeigen sich die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst oder bei Staatsunternehmen wie der Bahn. In der deutschen Industrie dagegen akzeptierten die Arbeitnehmer zuletzt Tarifabschlüsse unterhalb der Inflationsrate. Auch im angeblich so revolutionären Frankreich wird im Privatsektor viel weniger gestreikt. Für so rosig halten die meisten die wirtschaftliche Lage dann doch nicht, dass man das eigene Unternehmen wochenlang lahmlegen könnte, ohne den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden. Auch das zeigt, wie ambivalent die Lage derzeit ist.