Streiks bei der Deutschen Post: Dausend Prozent

53 % der Deutschen haben Verständnis dafür, dass die Frauen und Männer der Post für 15 Prozent mehr Lohn streiken. Unser Kolumnist meint: Scholz bleibt trotzdem Kanzler. (Aktuelle Civey-Umfrage für die ZEIT)

Die Älteren werden sich noch an Heinz Kluncker erinnern, jenen Vorsitzenden der Gewerkschaft ÖTV (heute: ver.di), der 1974 gegen den Willen des damaligen Kanzlers Willy Brandt eine Tariferhöhung von elf Prozent im öffentlichen Dienst durchsetzte, was vor allem deshalb zum Himmel stank, weil Kluncker zuvor die Müllabfuhr streiken ließ. Den Mief des Verrats wittern bis heute all jene, die der Ansicht sind, Klunckers Hartnäckigkeit habe in Verbindung mit dem Ärger über überquellende Mülltonnen und deren olfaktorische Auswirkungen auf bürgerliche Riechwerkzeuge entscheidend zum baldigen Rücktritt Brandts beigetragen. Seitdem gilt für den Politiker Willy Brandt, was – mit entschieden dramatischerer Konsequenz – auch für die Musiker Jim Morrison, Jimi Hendrix und Janis Joplin gilt: Wer früher abtritt, bleibt länger Kult.

49 Jahre nach dem Triumph des Arbeiterführers Kluncker fordert ver.di 15 Prozent mehr Lohn für die Angestellten der Deutschen Post. Dass sich Geschichte jetzt wiederholt, darf man aus mehreren Gründen bezweifeln: Zum einen bringt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke weder das Lebend- noch das politische Gewicht Klunckers auf die Waagschale.

Zum anderen ist der heutige Kanzler – nach allem, was man weiß – von den Melancholieanfällen mit eingebauter Rücktrittssehnsucht des damaligen Regierungschefs ähnlich weit entfernt wie Olaf Scholz vom Kultfaktor Willy Brandts. Und drittens haben liegen gelassene Briefe und hoch gestapelte Pakete gegenüber liegen gelassenen Fischresten und faulenden Sekai-Ichi-Äpfeln aus dem Norden Japans einen großen Vorteil: Sie stinken nicht. Und was nicht übel riecht, das kennt man aus dem eigenen Kühlschrank, ist ja noch leidlich gut.

Folglich zeigen 53 Prozent der Deutschen Verständnis dafür, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Deutschen Post AG für 15 Prozent mehr Lohn streiken. 39 Prozent zeigen das nicht, acht Prozent sind unentschieden.

Überraschend an den Zahlen ist, dass eine Mehrheit anderen gönnt, was sie selbst nicht bekommt. Erst recht, wenn man, wie ich, in einer Stadt mit Wohnungsnot lebt und eine bestimmte Partei die Bebauung von Brachen immer wieder verhindert, damit die Brachenpinklerhunde ihrer Wähler weiterhin gut gelaunt Brachen vollpinkeln können. Und wenn man sich dem Problem nur ein wenig nähert, weiß man schnell: Auch Eigennutz stinkt zum Himmel.