Stark | 150. Geburtstag: Die zehn geheimnisvollen Frauen von Thomas Mann

A

wie Amme

„Die Amme hatte die Schuld.“ Denn sie soff leider neben der ihr von der Konsulin großzügig verabreichten täglichen Portion Starkbier und Rotwein auch noch den Spiritus aus dem Kochapparat. Und so ließ sie im Suff den kleinen Johannes vom Wickeltisch fallen, sodass der späterhin „mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel zu langen, mageren Armen“ einen „höchst seltsamen Anblick“ bot, zwar die liebevolle Sorge von Mutter und Schwestern erfuhr, aber in der Liebe unglücklich blieb, mit dreißig Jahren eingestehen muss, dass sein bisheriges Leben „Lüge und Einbildung“ war, erkennen muss, dass die vermeintlich Seelenverwandte sich gleichgültig verhält. Und so ging er, nein „schob“ sich ins Wasser, Der kleine Herr Friedemann. So der Titel der Novelle von 1897, mit der Thomas Mann in geschickter Verkupplung von Theodor Fontane mit Nietzsche und Maskierung seiner Homosexualität, für die er keinem die Schuld geben konnte, erste Beachtung als Autor fand.

B

wie Buddenbrooks

In seinem Roman von 1901, für den er 1929 den Nobelpreis erhielt, hat er das familiäre Umfeld weidlich porträtierend ausgebeutet, was ihm nicht geringen Ärger einbrachte. Großmutter, Mutter und Tante: Elisabeth, Ehefrau von Jean, vital, wahrt den äußeren Schein familialer Seriosität, neigt aber zum Schauspielern und favorisiert obskurante Religionsvertreter. Gerda, Ehefrau von Senator Thomas, nicht sehr pflichtbewusst, aber von der Musik hingerissen, und Tony, gutgläubig und unangekränkelt, aber erst mit dem Blender und Betrüger Grünlich und dann mit dem biderben Schmarotzer Permaneder verheiratet. So geht’s durch die vorzüglich Dingen jenseits von Arbeit und Pflicht zugetanen Damen bergab. Da hilft selbst der fromme Wunsch der unnachahmlichen Sesemi Weichbrodt nicht: „Sei glöcklich, du gutes Kend!“

C

wie Clawdia Chauchat

Die wohl exzeptionellste unter Manns Frauengestalten. Auf dem → Zauberberg ist Hans Castorp von der katzengleichen, leicht knäbischen Russin, der türenknallenden Zuspätkommerin, in ihrem nonchalanten Umgang mit Ordnung und Moral, in ihrer somnambulen Laszivität,derart gefesselt, dass er, der in ihr die seinerzeit pubertäre erotische Faszination seines Mitschülers Pribislav Hippe wiederentdeckt, sein hanseatisches Pflichtgefühl verliert, nach immerhin ganzen sieben Monaten endlich im Faschingstreiben, bei Zitaten aus der Walpurgisnacht, Schweinchenmalen und Alkohol um ihren Bleistift bittet, ähnlich dem, den er bei Hippe seinerzeit geliehen hatte, und ihr (und ihm) ihn in einem vom Autor demonstrativ verschleierten One-Night-Stand zurückgibt, worauf sie abfährt, ihm nur das Röntgenbild ihrer Brust bleibt, bis sie mit dem impotenten Vitalbolzendarsteller Peeperkorn zurückkehrt und Castorp in aller Demut von ihr die Tugend des Mitleids zu schätzen gelehrt bekommt.

I

wie Ines Rodde

Anders als die im 1947 erschienenen Faustus-Roman bizarr Benamten, die Klavierlehrerin Kunigunde Rosenstiel und die Zimmerwirtin Else Schweigestill, ist auch Ines Rodde ein literarisches Beutestück aus Thomas Manns Familie. In dieser Figur verarbeitete er das Schicksal seiner Schwester Julia, aber wohl auch Züge seiner selbst. Er gab dem Ganzen dann aber sicherheitshalber einen anderen, durch einen Zeitungsartikel, den er in seiner Jugendzeit gelesen hatte, inspirierten Twist. Ines Rodde stammt also aus hanseatischem Patriziat (→ Buddenbrooks), ist aber nach dem Tod des Vaters sozial abgestiegen und lebt in der Münchner Boheme. Sie ist zwar formal verheiratet, aber immer ungehemmter außerehelich unterwegs. Doch der Geliebte ist ihrer nicht würdig, meint sie und erschießt ihn dann schließlich aus Eifersucht (→ Josephs Los).

J

wie Josephs Los

Potiphars Frau beschuldigte Joseph der versuchten Vergewaltigung, nachdem er sie zurückgewiesen hatte. Im Gegensatz zur Bibel gibt Thomas Mann ihr im dritten der Joseph-Romane nicht nur einen Namen: Mut-em-enet, sondern breitet ihre Geschichte weit aus. Ihr Gatte ist von den Eltern kastriert worden, kann also die Ehe nicht vollziehen. Drei Jahre währt ihr Liebesverlangen nach Joseph. Im ersten leugnet sie ihr Begehren noch, im zweiten gibt sie es zu erkennen und im dritten wird sie aktiv. Doch ihr gelispeltes „Slafe bei mir!“ erhört der schöne Sklave nicht, sondern flieht sie. Sie klagt ihn darauf der versuchten Vergewaltigung an. Joseph kommt in die Grube, und sie zieht sich wieder ins alte, freudlose Leben zurück – „kühle Mond-Nonne mit keusch zurückgebildeter Brust“, unnahbar und „bigott“. Dies Bild gewinnt an Tiefe, wenn man weiß, dass Thomas Mann für ihre inbrünstigen Liebesreden Entwürfe zu Gedichten benutzte, die er zur Zeit der → Buddenbrooks– vergeblich – an den Maler Paul Ehrenberg richtete.

K

wie Katia Pringsheim

Im Februar 1905 heiratete Katharina Pringsheim Thomas Mann. Ihr Vater war Mathematikprofessor in München, ihre Mutter früher Schauspielerin gewesen. Die Familie war wohlhabend. Schon im November 1905 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt: Erika. Der folgten Klaus, Golo, Monika, Elisabeth und Michael. Wiewohl mit Dienstpersonal versehen – Köchin, Stubenmädchen, Kinderfräulein, später sogar Chauffeur –, bedeutete das Management der Familie bei weitgehend auf Lesereisen abwesendem Vater so viel Stress, dass sie ab 1911 mehrfach in Davos kurte, woraus ihr Gatte seinen Stoff für den → Zauberberg bezog. Mit der Entlastung von den Kindern, die ihr freilich weiterhin Sorge bereiten sollten, begleitete sie Thomas Mann auf seinen Reisen, folgte ihm ins Exil und nach Zürich. Sie war mehr als nur Gattin. Man lese nur Meine ungeschriebenen Memoiren (1974).

M

wie Mutter

Thomas Manns Mutter (1851 – 1923) war die Tochter einer portugiesischstämmigen Brasilianerin und eines nach Brasilien ausgewanderten Lübeckers, deren Wohlstand eine von Sklaven bewirtschaftete Zuckerrohrplantage sicherte. Als sie fünf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Vater schickte sie und ihre Geschwister nach Lübeck, wo sie in einem Internat erzogen wurden. Mit 18 heiratete die in der Hansestadt als exotische Schönheit bewunderte Hochmusikalische den elf Jahre älteren Thomas Johann Heinrich Mann und gebar fünf Kinder – Heinrich, Thomas, Julia, Carla und Viktor. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes 1891 zog sie mit den Kindern nach München, wo sie von den Zinserträgen aus dem Verkaufserlös der Firma lebten. Später zog sie mit Viktor nach Augsburg um. Als die Inflation 1923 ihr Vermögen weitgehend vernichtete, weigerte sie sich, Unterstützung von den Söhnen anzunehmen, und lebte bis zu ihrem Tod in einem Hotel in immer bescheideneren Verhältnissen. Ihr Sohn Thomas hat sie – naturgemäß, ist man geneigt zu sagen – vielfach in Figuren seiner Werke porträtiert.

R

wie Rosalie v. Tümmler

Sie ist: Die Betrogene. So der Titel seiner Erzählung von 1953, seiner letzten. Lange Zeit als Skandaltext wahrgenommen. Denn darin camoufliert Thomas Mann sich selbst auf drastische, fast sarkastische Weise, getarnt in Parodie. Im Gegensatz zu ihrer neusachlich kühlen Tochter, einer gehbehinderten Malerin, ist die Witwe Rosalie schwärmerisch naturverbunden, stolz auf ihren weiblichen Instinkt und ohne Prüderie. Sie leidet unter den Wechseljahren. Mit dem jugendlich-vitalen Amerikaner Ken kommt Leben ins Haus und sie empfindet bald Liebe zu ihm. Ihre Blutungen kommen zurück. Bei einer Schlossbesichtigung finden sie unter hochsymbolischer Liebes- und Todes-Staffage zusammen, sie vertröstet ihn aber auf die folgende Nacht. Doch werden ihre Blutungen jäh stärker. Ein Arzt diagnostiziert fortgeschrittenen Krebs. Sie stirbt bald darauf.

T

wie Töchter

Wie die Rheintöchter das Gold, so hüteten die Mann-Töchter den Schatz ihres Vaters. Freilich auf je unterschiedliche Weise. Erika, geb. 1905, früh emanzipiert, war dem Geschäft des Vaters am nächsten. Sie reüssierte als Schauspielerin, Kabarettistin, Autorin und Lektorin. Für ihn, den sie endlich zur Emigration bewegte, war sie „Sekretärin, Biographin, Nachlaßhüterin, Tochter-Adjutantin“, denn sie begleitete und dolmetschte ihn, korrigierte seine Texte, gab später seine Briefe heraus und schrieb 1956 ein Buch über sein letztes Jahr. Zeitgleich erschienen Erinnerungen (→ Katia Pringsheim) von Monika, Jg. 1910, Vergangenes und Gegenwärtiges, die waren nicht so hagiografisch. Kein Wunder, denn die Eltern hielten sie für wunderlich und schätzten ihr Schreiben als nur „halb begabt“. Elisabeth, Jg. 1918, hatte als Jüngste der Kinder das Glück, nicht unter dem Ruhmesdruck des Vaters aufzuwachsen. Sie machte eine multitalentierte Karriere als Expertin für Seerecht, Ökologin, Feministin, Übersetzerin, Sachbuchautorin und wurde 1970 einziges weibliches Gründungsmitglied des Club of Rome.

Z

wie Zauberberg

Zahlreich sind die Frauen im 1924 erschienenen Jahrhundertroman. Doch bis auf → Clawdia Chauchat eher skurrile Staffage, undezent charakterisiert. Beim Personal Oberin von Mylendonk, „kümmerlichen Wuchses, ohne Formen“, bei den Patientinnen etwa Hermine Kleefeld, die mit dem Pneumothorax zu pfeifen pflegt, Lehrerin Engelhardt mit den „Altjungferwangen“ und so fort. Am ergiebigsten widmet er sich Karoline Stöhr, stets um vornehm gebildete Haltung bemüht, tatsächlich aber ungebildet, klatschsüchtig und von schierer Ersatzsinnlichkeit. Lustvoll, wie bei Fritz Reuter gelernt, lässt er sie immer wieder Fremdwörter verballhornen. Sie „desinfisziert“, verwechselt „insolvent“ mit „insolent“ und – als Musiker-Gattin – den Freischütz mit dem Tannhäuser, spricht gar von Beethovens Erotica. Ungehemmt genießt sie hingegen Torte, Süßwein – und Kino.