Stahlwerkschließung: Eine Stadt wehrt sich gegen Thyssenkrupp

Georg Hübner steht am Straßenrand und hält ein selbst gebasteltes Metallschild in die Höhe. „TKS Eichen darf nicht weichen“, steht darauf. Mit TKS Eichen ist das Thyssenkrupp-Stahlverarbeitungswerk in Kreuztal Eichen im Siegerland gemeint. Georg Hübner streckt das Schild dem Demonstrationszug entgegen, der mit viel Blaulichtbegleitung die örtliche Bundesstraße entlangkommt – vom Thyssenkrupp-Werk in Richtung Innenstadt. „Stahl ist Zukunft“, rufen sie zu Hunderten. Und in Richtung des Thyssenkrupp-Vorstandsvorsitzenden Miguel López: „López raus!“.

Georg Hübner, der Mann mit dem Schild, ist selbst ist gar nicht bei Thyssenkrupp beschäftigt, ist nur Anwohner um die Ecke und seit drei Monaten Rentner. „Aber ich habe früher mal in der Stahlindustrie gelernt“, erzählt er. „Und ich weiß, was eine Schließung dieses Werks für die Region bedeuten würde.“ Das „Werk“, das ist das Thyssenkrupp-Werk mit rund 500 Beschäftigten, das einem Eckpunkteplan des Thyssenkrupp-Stahl-Managements zufolge schließen soll. Das soll Teil sein eines Sanierungsplans für die notleidende Stahl-Konzernsparte, die sich in der Verselbständigung befindet und Verluste schreibt. Allein um Kreuztal Eichen geht es da nicht, Kreuztal Eichen ist nur ein Puzzlestein. Insgesamt 11.000 Stellen möchte das Thyssenkrupp-Management bis zum Jahr 2030 abbauen, wie seit rund zwei Wochen bekannt ist.

Einwohner fürchten „Dominoeffekt“

Auch vielen der Demonstranten, die aus allen Ecken Nordrhein-Westfalens und darüber hinaus angereist sind, geht es um mehr als die 500 Arbeitsplätze in Kreuztal Eichen. Etwa 2000 Menschen stehen später, als es schon dunkel ist auf dem „roten Platz“ am Kreuztaler Rathaus. Der Platz heißt so, weil er rot gepflastert ist, an diesem Mittwoch hat der Name gleich eine doppelte Bedeutung. Überall wehen rote IG-Metall-Flaggen, Kinder pusten in rote Trillerpfeifen, Stahlarbeiter tragen rote T-Shirts über den dicken Jacken. Etliche hier in der 31.000-Einwohner-Stadt fürchten einen „Dominoeffekt“, weil über Zulieferketten weitere Unternehmen betroffen sein könnten oder über die sinkende Kaufkraft lokale Geschäfte oder die Gastronomie. So wie die Eisdiele am „Roten Platz“: „Kreuztal als Stahlstandort muss bleiben“, haben die Inhaber auf ein kleines Plakat geschrieben, das direkt im Eingang hängt. „Solidarität mit der Belegschaft Thyssenkrupp Eichen.“

Auch Industrieunternehmen in der Region sehen das so. In Kreuztal sitzt etwa das älteste Familienunternehmen Deutschlands, der Feuerverzinker „Coatinc“. Zwar habe er selbst keine direkten Geschäftsbeziehungen zu Thyssenkrupp und sehe sein eigenes Unternehmen deshalb nicht von der Entwicklung betroffen, sagt Inhaber Paul Niederstein. „Sicherlich ist es aber so, dass es für die Region fatal ist.“ Die geplante Werksschließung sei ein weiterer Schlag für die Industrieregion Siegerland und die Montanindustrie in Deutschland. „Es ist sehr bedauerlich.“

„Arbeitnehmer sind keine Kostenstellen mit Ohren“

Kreuztal ist an diesem Mittwochabend auch ein guter Ort für Wahlkampf. Erst vor Stunden hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas seinen Antrag überbracht, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen und damit den Weg für Neuwahlen freizumachen. Auf den zur Bühne umgebauten Lastwagen auf dem „Roten Platz“ steigt nun sein Parteigenosse und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Arbeitnehmer sind keine Kostenstellen mit Ohren“, ruft er in die Menge. „Sie müssen anständig behandelt werden.“

Danach geht es in seiner Rede auch um die Verantwortung des Staates in der Stahlkrise. Heil wirbt für „fairen Wettbewerb“ auf den globalen Märkten und beteuert, sich in Brüssel dafür einzusetzen. Er stimmt ein in die Stahl-ist-Zukunft-Rufe, denn der Stahl stecke in Windrädern, Elektroautos und Haushaltsgeräten. Nicht zuletzt, sagt Heil „müssen wir wehrfähig sein“ – auch dafür brauche es den Stahl in Deutschland. Dann, nach dem kurzen Ausflug in die Wirtschaftspolitik, ist er wieder ganz der Arbeitsminister. Wie schon von Kanzler Scholz nach dem „Stahlgipfel“ am Montag in Berlin verkündet, solle kommende Woche im Kabinett beschlossen werden, den Rahmen für die Inanspruchnahme des Kurzarbeitergelds zu erweitern. Statt wie gewöhnlich zwölf soll es 24 Monate genutzt werden können. „Setzt die Leute nicht vor die Tür“, ruft Heil. Es sei „besser Brücken zu bauen, als Brücken zu zerstören“.

Woanders einen Job finden? Das wollen andere auch

Diese Worte richten sich an Menschen wie Tamara Loos unten im Publikum. Ihr Mann arbeitet in der Werksfeuerwehr im Werk in Eichen, er ist Alleinverdiener ihrer vierköpfigen Familie, die Kinder sind 12 und 14. „Wir wissen nicht was passiert, wir wissen nicht wann es passiert, wir wissen nicht wie es weitergeht“, sagt sie. „Das reißt einem die Füße weg.“ Seit 41 Jahren sei ihr Mann, ein gelernter Verfahrensmechaniker schon bei Thyssenkrupp. Ob es realistisch wäre, dass er im Unternehmen nochmal einen anderen Job findet? Tamara Loos zuckt die Schultern. „Er müsste dann wohl nach Dortmund oder nach Duisburg fahren“, sagt sie. Das allein wäre nicht das Problem, bloß: Die anderen 500, die wollen das dann doch auch.“

Die IG-Metall-Vertreter und Betriebsräten auf der Lastwagen-Bühne stellen immer wieder die gesamte Sanierungsstrategie von Thyssenkrupps Stahltochtergesellschaft infrage. Sie sei undurchdacht und ohne die Menschen gemacht, kritisiert Knut Giesler, der Vorsitzende der IG Metall Nordrhein-Westfalen, der auch stellvertretender Aufsichtsratschef von Thyssenkrupps Stahlsparte ist. „Es gibt für uns rote Linien. Es darf keine betriebsbedingten Kündigungen geben und es darf keine Standortschließungen geben.“

Standort macht Verluste im zweistelligen Millionenbereich

Dem Betriebsratsvorsitzenden in Kreuztal Eichen, Helmut Renk, ist zudem komplett unverständlich, warum ausgerechnet sein Werk schließen soll. „Die Anlage in Eichen ist so voll belegt, die läuft Weihnachten und Silvester komplett durch“, sagt er im Gespräch mit der F.A.Z. Thyssenkrupp Steel produziert im Siegerland an zwei Standorten, neben Kreuztal Eichen auch in Ferndorf. Renks Aussage zufolge wird an beiden Standorten zusammen eine Gesamtkapazität von 1,6 Millionen Tonnen Stahl weiterverarbeitet, genau auseinander dividieren, was welchem Standort zuzurechnen ist, kann er nicht. Was er weiß: „Wir sind hier breit aufgestellt.“ Ungefähr 450.000 Tonnen gingen an die derzeit schwächelnde Autoindustrie. „Wir machen aber auch Industriegüter, zum Beispiel für den Baubereich und wir sind gut aufgestellt im Bereich Weiße Ware.“ Heißt: Das Werk fertigt zum Beispiel beschichtete Bleche für Kühlschränke oder Waschmaschinen. Renk hält es für eine gute Idee, dass sie hier im Siegerland „eben nicht autolastig“ aufgestellt sind. Keiner wisse, wo es sich noch hin entwickelt mit dem Automarkt.

„Wir machen am Standort Eichen selbst bei guter Auslastung der Anlagen Verluste – im vergangenen Geschäftsjahr im niedrigen zweistelligen Millionenbereich“, sagt hingegen ein Sprecher von Thyssenkrupps Stahlsparte. Ein wesentlicher Grund dafür sei, „dass das Erlösniveau des überwiegenden Teils der Produkte nicht ausreicht, um den Standort profitabel werden zu lassen. Noch Mitte Juni sah man das offenbar anders. Da verschickte Thyssenkrupp Steel eine Pressemitteilung, in der das Unternehmen Investitionen im Siegerland im „niedrigen zweistelligen Millionenbereich“ bekanntgab. In Eichen floss demnach unter anderem Geld in eine Bandstabilisierung, sowie in „Farbton- und Schichtdickenmessungen auf dem neuesten Stand der Technik“.

„Wenn sie das Werk zumachen, dann gehen wir vielleicht zurück“

Auf der Lastwagenbühne geht es derweil weiter mit Wahlkampf. Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne) tritt auf. Bevor die Reden starteten, sang sie mit der Menge „You’ll never walk alone“. Jetzt spricht sie davon, dass das Zukunftspapier des Thyssenkrupp-Stahlvorstands mit den Worten „Nicht zu fassen“ gut kommentiert sei. Das Unternehmen müsse Standorte sichern und betriebsbedingte Kündigungen ausschließen.

Nicht weit von ihr entfernt steht am Bühnenrand ein Bandarbeiter mit seiner sieben Jahre alten Tochter; das Mädchen schwingt eine rote IG-Metall-Flagge. Er sei erst seit einem Jahr im Werk in Kreuztal Eichen beschäftigt, erzählt der Mann, er sei aus Syrien nach Deutschland gekommen. Bewegte Zeiten seien es für ihn im Moment, nicht nur wegen der Werksschließungspläne. Eines sei mittlerweile mehr als früher eine realistische Option geworden: „Wenn sie das Werk zumachen, dann gehen wir vielleicht zurück“, sagt er.