Soziologe Armin Nassehi: „Widerstände argumentiert man nicht sittlich weg“

Wenn man sich mit Armin Nassehi unterhält, fällt seine freundliche Gelassenheit auf: Systemtheoretiker, so scheint es, behalten auch zu dramatischen Fragen der Gegenwart das noch größere Ganze im Blick – und verfallen so vielleicht seltener in vollmundige politische Formulierungen. Sein neues Buch will den Blick für Beharrungskräfte schärfen: weil sie normal und erwartbar sind.

der Freitag: Herr Nassehi, in Ihrer „Kritik der großen Geste“ kann man Ihren Ärger über zu einfache Analysen der Gegenwart spüren. Aber auch den Spaß, dagegen die „kleinen Schritte“ für eine gesellschaftliche Transformation zu setzen. Was überwog denn?

Armin Nassehi: Das war eine Kombination aus beidem. Mir geht es um den Gesamtdiskurs, der oftmals damit zufrieden ist, starke Forderungen zu stellen, eben großen Gesten. Es scheint alles erreicht, wenn das Gegenüber die Forderung semantisch wiederholt. Ich vereinfache, aber wenn Politiker, Journalisten, Leute aus Unternehmen das Bekenntnis ablegen: Ja, erstens, es ist dringlich, zweitens, wir müssen vieles ändern, drittens, so kann es nicht weitergehen, und viertens, wir müssen auch Entscheidungen treffen, die wehtun, gibt man sich zufrieden. Nur löst das keine Probleme. Das war für mich die Initialzündung, ich habe das Gefühl, dass es vielen Diskursen ausschließlich um Darstellungsprobleme geht.

„Ich ärgere mich als Soziologe, dass meine eigene Disziplin sich an solch vereinfachenden Äußerungen beteiligt“

Was stimmt nicht an der dringlichen Kommunikation?

Ich ärgere mich als Soziologe darüber, dass meine eigene Disziplin oftmals an solch vereinfachenden Äußerungen beteiligt ist. Man macht vollmundige Kapitalismuskritik und deutet alles in ein Verteilungsproblem um. Fehlallokationen des Kapitalismus muss man analysieren. Aber wenn es um Transformation geht, muss man vor allem ernst nehmen, dass Gesellschaft und Ökonomie widerständige Gegenstände sind. Diese Widerstände muss man untersuchen, man kann nicht moralisch dagegen argumentieren.

Die Widerstände gegen Klimapolitik scheinen allerdings zu wachsen, während die Folgen der Krise immer sichtbarer werden. Ist da eine ganz neue Problematik entstanden, auf die wir keine Antwort haben?

Die Klimakrise ist tatsächlich exzeptionell. Sie ist ja eigentlich Ergebnis großer Erfolge – marxistisch argumentiert, hat die Entwicklung der Produktivkräfte Fortschritte bewirkt. Jetzt sehen wir, dass das enorme Kosten produziert. Und die Krise trifft eine Gesellschaft, die nur auf die bekannten Mittel ihrer Verarbeitung setzen kann, in Form der bestehenden politischen Ordnung, also der Demokratie, mit ihren ökonomischen Strukturen und den kulturellen Konflikten der Öffentlichkeit. Sie hat keine anderen Mittel als die, die sie hat. Dagegen hören Sie von Engagierten große Forderungen, wie etwa: Wir müssen die Politik dazu bringen, endlich die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ohne mitzubedenken, dass die Politik ja kein Subjekt ist, das sagen kann: Ach ja, ab heute machen wir das anders. Ich möchte das nicht nur obercool beschreiben, mich interessiert eine viel spannendere Frage …

„Wir müssen ernst nehmen, dass die Leute nicht so sind, wie wir sie als Revolutionäre ihrer selbst gerne hätten“

Welche?

Eben inwiefern wir, obwohl wir zu diesem sozialen System gehören, das sich ändern soll, gewissermaßen von innen heraus Änderungen vornehmen können. Vielleicht ist es auch von mir eine große Geste, zu sagen: Die Veränderung von Produktionsformen, der Umbau der energetischen Basis, die konkreten Schritte, die funktionieren und mehr Vertrauen in Veränderungsdynamik produzieren als der große Satz, der nicht einzuhaltende Dinge verspricht, sind besser für die Demokratie, weil das Gelingen eher Vertrauen produziert als unrealistische Ziele.

Wo wären diese Schritte angesiedelt?

Die müssen auf Ebenen funktionieren, die man nicht klimawissenschaftlich beschreiben kann! Es muss sozusagen lebbar sein, zum Beispiel in privaten Haushalten, für die es nicht egal ist, ob der Gaspreis um 10 oder 15 oder 20 Prozent steigt. Es geht um soziale Einbettung der Transformation. Wir haben auch funktionale Probleme. Wir haben eine Pandemie hinter uns, in der Elitenkritik gute Gründe hatte. Das versuche ich ernst zu nehmen. Deshalb komme ich zu einem eher konservativen Programm. Das bedeutet, ernst zu nehmen, dass die Leute nicht so sind, wie wir sie gerne als Revolutionäre ihrer selbst hätten, um es mal so zu formulieren.

„Es gab innerhalb der ökologischen Bewegung immer wieder die Frage, ob die Demokratie eigentlich in der Lage sei, mit existenziellen Problemen umzugehen“

Eine demokratische Gesellschaft denkt sich die Zukunft immer als offen und gestaltbar, mit der Klimakrise funktioniert das nicht mehr, oder?

Auch wenn der Satz stimmt, was folgt daraus? Ich meine, es gab innerhalb der ökologischen Bewegung immer wieder die Frage, ob die Demokratie eigentlich in der Lage sei, mit existenziellen Problemen umzugehen. Ob man dem politischen Prozess noch vertrauen könne. Wir haben in Deutschland mit der Konstellation einer großen Mitte-rechts- und einer großen Mitte-links-Partei eigentlich einen Sog entwickelt, der alle Probleme innerhalb einer relativ kleinen Spanne von Handlungsalternativen beschreibbar machte. Es schien zwar beinahe gleich, ob die SPD oder die Union regierte, aber es hatte doch erhebliche Konsequenzen, ob man eher angebots- oder nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik machte, ob Sozialpolitik energischer betrieben wurde oder nicht. Das Neue ist heute tatsächlich, dass man das Problem der Klimapolitik nicht mehr entlang der tradierten Konfliktlinien aufheben kann. Nur, was ist die Alternative zu der Form der Informationsverarbeitung, die die Demokratie liefert? Eine Alternative wäre, gewissermaßen im politischen Prozess Differenzen abzuschaffen. Also eine autoritäre Gesellschaft. Das kann nicht die Alternative sein. Der chinesische Sozialphilosoph Zhao Tingyang sagt ganz lapidar: Mit der Demokratie habt ihr Probleme, die ihr ohne Demokratie nicht hättet.

Sie haben oft für das Projekt einer schwarz-grünen Regierung geworben. Warum?

Für Linke ist das immer schwer zu ertragen, aber ich dachte für eine Weile, dass eine schwarz-grüne Perspektive nicht das Schlechteste wäre, weil man da zumindest verschiedenste Milieus zusammenbringen kann. Nur hat der Kulturkampf vor allem auf der Seite der Konservativen Formen erreicht, mit denen das kaum mehr möglich ist.

„Populistische Akteure haben eine andere Zeitdimension im Kopf. Die versprechen alles für sofort, Sachebenen spielen keine Rolle“

Damit bezeugen Sie, dass die Zeit für politische Lösungen ausläuft?

Die Zeit läuft auf verschiedenen Ebenen ab. Wir müssen die Probleme mit dem CO2-Ausstoß und der Vernichtung der Biodiversität lösen. Aber die Zeit läuft auch aus im Hinblick auf das Vertrauen in Eliten und die Problemlösungskompetenz der Politik. Wir erleben überall in den westlichen Demokratien, dass populistische Akteure eine andere Zeitdimension im Kopf haben. Die versprechen einfach alles für sofort, Sachebenen spielen überhaupt keine Rolle. In den USA sehen wir, dass Joe Biden klassische, sozialdemokratische Interventionspolitik gemacht hat, sicher nicht perfekt, aber es geht um kleine Schritte: Beschäftigung, Infrastruktur, Investitionen mit der Perspektive gesellschaftlicher Transformation. Dagegen liegt vieles von dem, was wir an Infrastrukturproblemen haben, an der Länge der Verfahren, leidet unter der Beteiligung der unterschiedlichen Stakeholder. Daran kann man sehr schön sehen, dass unsere Gesellschaft institutionell für diese Probleme eigentlich nicht gebaut ist. Darüber muss man nachdenken. Ich weiß, dass auch das eine große Geste sein mag – aber auch eine ironische Selbstmarkierung: Ohne starke Sätze kann man die starken Sätze nicht kritisieren.

Für Sie sind Bezugsprobleme des Konservatismus der Schlüsselaspekt für Transformation, was meinen Sie damit?

Die Bezugsprobleme des Konservatismus haben nichts mit konservativen Parteien zu tun, sondern mit der Frage, worin sich eigentlich linkes und konservatives Denken gegenüberstehen. Der Linke glaubt an die Stärke der Menschen: Wenn du einsiehst, was die gesellschaftlichen Notwendigkeiten sind, dann kannst du dich ändern. Der Konservative geht hin und sagt: So ähnlich denke ich auch, aber ich weiß, dass die Leute schwach sind und in ihren konkreten Lebensformen eben die Lebensform stärker ist als gute Gründe. Leider, dieser zweite Satz ist der soziologischere.

Wohin führen diese Bezugsprobleme?

Wer in der Gesellschaft etwas verändern will, muss mit dieser strukturellen Trägheit rechnen. Das heißt, dass man bei Veränderungen stärker auf diese Kontinuitätsdimensionen achtet. Wenn Sie empirisch die Dringlichkeit von Klimafragen erheben, ist die Zustimmung riesengroß. Aber dann braucht es nur ein Gebäudeenergiegesetz, das thematisiert, dass die Heizung im eigenen Keller eine Relevanz hat. Und dazu eine mediale Kampagne, dann schlägt dieses konservative Bezugsproblem durch. Denn immerhin sollen nun persönliche Routinen verändert werden. Offensichtlich gelingt es, die Ängste vieler Menschen populistisch zu bewirtschaften. Längst auch nicht mehr nur in prekären Lebenssituationen. Und es geht ja weiter, wir müssen wieder über Verteidigung nachdenken, das kostet viel Geld, wir erleben, dass Preise, die für uns relevant sind, von geostrategischen Fragen abhängen.

Kapitalismuskritik nennen Sie allerdings eine „semantische Leerstelle“. Warum?

Es ist eine Leerstelle, weil es dabei sehr oft nur um den semantischen Punkt geht, den man damit macht. Ich erlebe das sehr häufig, dass man sagt: So ist es im Kapitalismus, und damit ist die Diskussion zu Ende. Ich habe bereits früher darauf hingewiesen, dass wir ein Maßlosigkeitsproblem haben und dass uns Stoppregeln fehlen. Das halte ich für eine viel radikalere Kapitalismuskritik. Eine Analyse, die sich die Systeme der Gesellschaft vornimmt, erkennt, dass wir es überall mit einer Form zu tun haben, die, um noch einmal marxisch zu reden, eben eine Befreiung aus den Fesseln der Tradition war und die dann keine Stoppregeln mehr kennt. Nun merken wir in den gegenwärtigen Krisensituationen, wie fragil die Versuche sind, entlang gesellschaftlicher Fortschritte Stoppregeln institutionell einzubauen.

Armin Nassehi (geboren 1960 in Tübingen) ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und einer der bekanntesten öffentlichen Intellektuellen in Deutschland. Seine Untersuchungen und Monografien denken die Systemtheorie von Niklas Luhmann weiter. Unter anderem ist er Mitglied im Zentrum Liberale Moderne, Preisträger der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Mitglied in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, außerdem Herausgeber des Kursbuch.

Sein Buch Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken ist bei C. H. Beck erschienen