Sozialpolitik: So leichtgewichtig und günstig lässt sich Kinderarmut reduzieren

Mit großen
Ambitionen war die Bundesregierung angetreten, um Kinderarmut durch die
Einführung einer Kindergrundsicherung zu bekämpfen. Diese Kindergrundsicherung
steht jedoch nun vor dem Scheitern, auch weil es vielen nicht um den Inhalt
geht, sondern um Wahlkampf. Es gibt jedoch andere Instrumente, um Kinderarmut
zu reduzieren und soziale Teilhabe zu verbessern, die schnell und
unbürokratisch umgesetzt werden könnten und den Staat zudem kein zusätzliches
Geld kosten: die Reform der Kinderfreibeträge.

Sehr
vereinfacht erklärt gibt es drei zentrale Elemente für die finanzielle
Förderung von Kindern in Deutschland. Die Grundsicherung, also das Kindergeld,
erhalten alle Familien mit Kindern bis mindestens 18 Jahre oder maximal 25
Jahre, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Der Betrag wurde unter dieser
Bundesregierung signifikant erhöht und beträgt heute 250 Euro pro Kind und
Monat. Viele von Armut bedrohte Familien können zudem einen Kinderzuschlag
beantragen, der maximal weitere 292 Euro im Monat betragen kann. Der Haken ist
jedoch, dass viele anspruchsberechtigte Eltern den Kinderzuschlag nicht
beantragen – entweder aus Unwissenheit oder wegen der Kompliziertheit der
bürokratischen Prozesse. Die geplante Kindergrundsicherung soll verschiedene
Leistungen für Kinder zusammenführen, um das System zu vereinfachen, die
Transparenz zu verbessern, dadurch dem Staat Geld zu sparen, die
Inanspruchnahme zu erhöhen und Leistungen zu verbessern. Familien sollten also
nicht länger eine Holschuld haben, sondern der Staat eine Bringschuld – so die
Logik.

Die fatale Logik des deutschen Steuersystems

Ein
weiteres Element sind die Freibeträge für Bildung, Erziehung und Ausbildung
(BEA-Freibeträge), die Eltern für diese Zwecke steuerlich geltend machen
können. Diese Freibeträge sind progressiv: je höher die Einkommen der Eltern,
desto höher die steuerlichen Vorteile. Für Spitzenverdienende können sie bis zu 3.000 Euro pro Kind und Jahr betragen.

Diese
BEA-Freibeträge unterstreichen die nicht mehr zeitgemäße Logik des deutschen
Steuersystems. Eine Gesellschaft, die Chancengleichheit für alle Kinder und die
Förderung von Talenten und Fähigkeiten jedes Kindes gleichermaßen in den
Mittelpunkt stellt, sollte mehr Geld für Kinder in einkommensschwächeren
Haushalten als für Haushalte mit hohen Einkommen zur Verfügung stellen. Zumal
Leistungen, die pauschal über die BEA-Freibeträge abgedeckt werden sollen –
Nachhilfe oder Musikschule – nicht weniger wichtig für Kinder in
einkommensschwachen Familien sind. 

Die Logik des deutschen Steuersystems fokussiert sich jedoch weniger auf Einkommensunterschiede zwischen Familien, sondern auf die sogenannte horizontale Gleichbehandlung – es vergleicht die Situation von kinderlosen Paaren mit jenen mit Kindern. Demnach soll ein Paar mit Kindern
gegenüber einem Paar ohne Kinder nicht finanziell schlechter gestellt sein. Da
einkommensstarke Paare deutlich mehr Geld für ihre Kinder ausgeben, sollen sie
auch mehr finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten.

Die
Konsequenzen dieser Logik sind für Gesellschaft und Wirtschaft katastrophal. In
kaum einer westlichen Gesellschaft ist die Chancengleichheit in Bezug auf
Bildung so gering wie in Deutschland. Der Bildungsabschluss der Kinder hängt
viel stärker als anderswo in der westlichen Welt vom Einkommen und der Bildung
der Eltern ab. Viele Kinder und Jugendliche können ihre Talente und Fähigkeiten
nicht entwickeln, und zu vielen wird dadurch die soziale Teilhabe schon in
jungen Jahren verwehrt. Das reduziert nicht nur die politische Teilhabe;
Wirtschaft und Gesellschaft entgeht ein riesiges Potenzial durch fehlende
Fachkräfte. Und für viele junge Menschen bedeutet dies, dass sie keinen
Schulabschluss oder keinen Berufsabschluss erhalten, häufiger Bürgergeld beziehen und dadurch auch eine Belastung für die Sozialsysteme und die Gesellschaft
werden.

Weniger Freibetrag, mehr Kinderzuschlag

Eine neue
Studie der DIW Econ (PDF) (einer Tochtergesellschaft des DIW Berlin) im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt
(AWO) berechnet, wie hoch die Freibeträge sind und wie sich diese über Familien
verteilen. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine Kürzung der BEA-Freibeträge auf das
gesetzliche Minimum dem deutschen Staat knapp 3,5 Milliarden Euro im Jahr einsparen
würde.

Dies ist
eine beträchtliche Summe, die zielgenauer auf bedürftige Kinder umverteilt
werden könnte und sollte. Es geht also nicht um eine Neiddebatte oder darum,
den vermögenden Haushalten weniger Geld für ihre Kinder zu geben. Die
Empfehlung der AWO aus diesen Berechnungen ist vielmehr, dass diese 3,5
Milliarden Euro für die Erhöhung des Kinderzuschlags genutzt werden sollten. Das wären knapp 120 Euro im
Monat mehr für jedes von Armut betroffene Kind. Dieses Geld könnte für die
Betroffenen einen nennenswerten Unterschied ausmachen, Kindern und Jugendlichen
soziale Teilhabe und bessere Bildungschancen ermöglichen und ihrem Lebensweg
mehr Freiheit und Selbstbestimmung geben.

Die Stärke
dieses Vorschlags liegt in seiner Einfachheit und schnellen Umsetzbarkeit. Kein
Gesetz müsste geändert, keine neue Bürokratie geschaffen oder zusätzliche
Programme kreiert werden. Es würde den deutschen Staat kein zusätzliches Geld
kosten und dem Staat langfristig sogar
Geld sparen, weil es die Sozialsysteme entlasten würde.

Die
Nachteile liegen jedoch auf der Hand: Viele Anspruchsberechtigte nutzen den
Kinderzuschlag nicht und würden von dieser Umverteilung nicht profitieren. Eine
Alternative ist es, die 3,5 Milliarden Euro für eine Erhöhung des Kindergelds
um rund 20 Euro pro Kind und Monat zu nutzen – mit dem Nachteil, dass diese
Option nicht zielgenau Kinderarmut bekämpft. Keine dieser Optionen
kann die Kindergrundsicherung jedoch ersetzen. Denn die Kindergrundsicherung
soll den Staat in eine Bringschuld versetzen, indem er verschiedene Leistungen
bündelt und die Auszahlung automatisiert erfolgen soll.

Zu häufig
werden Vorschläge zur Armutsbekämpfung mit dem Argument abgelehnt, es sei kein
Geld dafür vorhanden. Die Möglichkeit einer Reform der BEA-Freibeträge widerlegt dieses
Argument. Die Bundesregierung könnte sehr schnell und recht zielgenau Kinder aus
einkommensschwachen Haushalten finanziell besser unterstützen, ohne dass dies
den Staat auch nur einen Euro mehr kostet.