So wird die Linke triumphierend: Nam Duy Nguyens persönlichen Lehren aus Leipzig

Die Linke betritt politisches Neuland in Deutschland. Die am Wochenende gewählten Vorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken werden ihr Gehalt auf 2.850 Euro deckeln, gemeinsam mit hunderten Aktiven werden sie im kommenden Jahr an hunderttausenden Haustüren der Republik klingeln. So werden sie in Erfahrung bringen, was die Bevölkerung umtreibt und diese Themen auf direktem Wege in den Bundestag tragen. Im Sommer haben wir in Leipzig an rund 50.000 Türen im Wahlkreis Leipzig Mitte-Ost geklopft und mit großem Abstand das Direktmandat gewonnen. Ich habe dabei eine ganz andere Linke erlebt: eine Partei von unten, eine Partei, die ehrlich ist, und eine Partei, die Politik nah an den Leuten macht.

Drei persönliche Lehren aus Leipzig, oder: Weshalb es sinnvoll ist, alte Pfade zu verlassen und etwas Neues zu wagen.

Der Wahltag in Sachsen war für mich in zweifacher Hinsicht unfassbar. Auf der einen Seite hat die AfD – eine Nazi-Partei – fast stärkste Kraft in Sachsen geworden. Das ist für Sachsen und den ganzen Osten eine Katastrophe. Auf der anderen Seite haben wir in Leipzig Mitte-Ost ein Direktmandat für DIE LINKE errungen – mit einem Wahlkampf, in dem wir versucht haben, Politik ganz anders zu machen.

50.000 Haustüren – und hinter jeder eine eigene Geschichte

Als wir im vergangenen Winter in die Planung unserer Kampagne eingestiegen sind, haben wir uns gefragt, wie eine Antwort auf den Rechtsruck aussehen kann. Und damit auch, wie die Linke eine Antwort auf die politische Frustration der Menschen finden kann. So sehr mich der Rechtsruck in Sachsen mit Angst erfüllt: Die Erfahrungen, die ich in den letzten Monaten machen durfte, geben mir auch Hoffnung.

Seit April haben wir in meinem Wahlkreis mit Hunderten Aktiven an jeder einzelnen Haustür geklopft, insgesamt 50.000. Unser Ziel: Wir wollten mit allen Menschen darüber sprechen, was sie bewegt, wo am meisten der Schuh drückt und wo sie bereit wären, mit uns einen Unterschied zu machen. Mehr als 14.000 Türen wurden uns geöffnet. Manchmal blieben wir an der Türschwelle stehen, manchmal wurden wir eingeladen, dahinter zu treten – in fremde Küchen und Wohnzimmer. Hinter jeder der Haustüren, an denen sich ein Gespräch ergab, erhielten wir Einblicke in das Leben der Menschen in unserer Nachbarschaft.

Ihre Geschichten erzählen von Wut, Frustration und Hoffnungslosigkeit in einem Sachsen, das von Armut und Rassismus geprägt ist. Aber sie eröffnen auch den Blick auf den Anspruch, gehört und ernst genommen zu werden, und auf die Sehnsucht nach einem Ende der Perspektivlosigkeit und Einsamkeit, die viele empfinden.

Wir haben mit Menschen gesprochen, die ihre Wahlbescheide schon längst zerrissen hatten, weil sie von Politik ohnehin nichts erwarten. Mit Menschen, die jeden Tag bis zur Erschöpfung arbeiten, um sich und ihre Familien über die Runden zu bringen, und die verzweifelt sind, weil es trotzdem nicht reicht. Mit Menschen, die überlegen, wegzuziehen aus Leipzig, weil sie sich hier nicht mehr zuhause fühlen – oder weil die Mieten immer weiter steigen. Mit solchen, die darauf hoffen, die AfD werde ihre Probleme endlich lösen, und solchen, die aus Angst vor den Rechten nicht mehr mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn sprechen. Vor allem waren es Menschen, deren alltägliche Sorgen in der etablierten Politik kaum eine Rolle spielen.

Wenn wir von Haustür zu Haustür gezogen sind, ging es uns im ersten Schritt weniger darum zu erklären, wie es sein sollte, als nachzufragen und zuzuhören. Manchmal fragten Menschen mich skeptisch, was ich denn von ihnen wolle. Ich antwortete: „Von Ihnen hören, was Sie umtreibt.“ Meistens dauerte es dann nicht lang, bis die Menschen erzählten – manchmal minutenlang.

Die eindrücklichsten Gespräche waren die mit den sogenannten „Politikverdrossenen“. Einmal klingelten wir etwa bei Khaled (Name geändert), Familienvater von vier Kindern, der im Lager Nachtschichten in Vollzeit arbeitet und zusätzlich noch einen Minijob hat – „um zumindest am Ende des Monats auf null zu kommen“. Was das Problem sei? Dass Bürgergeldempfänger und Ukrainer ein gutes Leben finanziert bekommen, während er seinen Kindern erklären muss, warum sie im Unterschied zu anderen keine neuen Schuhe bekommen können. Das habe er auf Youtube gelernt. Gestern erst habe er einen Freund angerufen und ihm gesagt, dass er dieses Mal nicht wählen werde, das bringe schließlich nichts.

Doch das Gespräch wendete sich: Weg von den Bürgergeldempfängern und Menschen, die fliehen mussten, hin zur ungerechten Verteilung des Reichtums hier im Land und die Wut auf die, die das einfach so hinnehmen. In solchen Gesprächen berichtete ich häufig, dass ich selbst dieses Gefühl kenne, in Armut aufwachsen zu müssen, und dass ich genau deshalb hier bin. Aber auch, dass wir nur gemeinsam etwas ändern können, statt uns gegeneinander ausspielen zu lassen. Am Ende sagte er zu, mit seiner gesamten Familie zu unserem Sommerfest zu kommen und doch zu wählen – dieses Mal die Linke. Gerne würde ich ihn fragen, ob er es am Ende getan hat.

Gemeinsamkeiten entdecken

Für viele Menschen war es merklich das erste Mal seit Jahren, dass sie jemand nach ihren Problemen fragte, nach ihrer Meinung, nach ihren Wünschen und Erwartungen. Je mehr Gespräche ich führte, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass diese Gespräche den Menschen etwas bedeuten. Dass viele Menschen zwar wütend und resigniert sind, aber sich auch danach sehnen, gehört und vor allem ernst genommen zu werden. Es ist beeindruckend, wie schnell Menschen sich öffnen, wenn sie das Gefühl haben, auf ehrliches Interesse zu stoßen.

Das bedeutet mir viel, denn ein Großteil dieser Geschichten könnten meine eigene sein. Ich weiß wie es ist, sich entblößt zu fühlen als Kind, weil man nicht die neuesten Schuhe anhat. Auch erinnere ich mich noch allzu gut daran, wie ich in der 6. Klasse meinen Eltern gesagt habe, das Schulessen schmecke mir nicht und sie sollten es abbestellen. In Wahrheit wollte ich ihnen die finanzielle Belastung ersparen. Wenn ich diese Erfahrungen an den Haustüren teilte, reagierten viele Menschen erstaunt. Denn in der Welt der großen Politik zwischen Bundestag, BILD und Talkshows finden diese Lebensrealitäten kaum statt.

Mit dieser Welt habe er nichts gemeinsam, sagt ein älterer Mann, auch ein Nichtwähler, nach einem langen Gespräch in seinem Wohnzimmer, in dem er über Jahrzehnte seiner Lebensgeschichte gesprochen hatte: „Aber es scheint mir, Du und ich haben viel gemeinsam. Vielleicht gebe ich Dir eine Chance.“

Lehren von der Haustür: für eine Politik der Ehrlichkeit

Insbesondere drei Sachen habe ich aus all den Begegnungen der letzten Monate gelernt – über die Menschen in meinem Wahlkreis, über die politische Lage in Sachsen und über Wege, die Entwicklungen hier zu verstehen.

Erstens: Die Wut und Frustration der Menschen, auf die die AfD aufsetzt, hat reale Ursachen. Sie rührt von einem Gefühl der Ohnmacht und Perspektivlosigkeit her, das viele Menschen tagtäglich spüren. 2022 stimmten in Sachsen 80,9 Prozent der Menschen der Aussage zu: „Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.“[1] Fast jeder Dritte fühlt sich als „Mensch zweiter Klasse“[2] – abgehängt und stigmatisiert: Diese Menschen haben berechtigterweise das Gefühl, dass Politik nicht nur weit weg von ihnen stattfindet, sondern an vielen Stellen auch gegen sie gerichtet ist.

Zweitens: Antworten auf ihre Ohnmacht und Perspektivlosigkeit kann man nur finden, wenn man die Lebensrealität und die Probleme der Menschen ernst nimmt. Dazu muss Politik ins Alltagsleben vordringen und bei den Anliegen der Leute ansetzen. Das geht über das Gespräch an der Haustür hinaus. Viele Türen haben sich erst dann einen Spalt weiter geöffnet, wenn wir davon berichtet haben, dass wir das Gehalt, was ich im Landtag erhalten werde, für die Nachbarschaft nutzen wollen, und dass wir bereits jetzt jede Woche Sozialsprechstunden anbieten. Oder wenn wir die Menschen eingeladen haben, mit uns ein Sommerfest zu feiern. Wir wussten, wir müssen beweisen, dass wir es besser machen wollen.

Drittens: Um die AfD zu schwächen, darf man den Rechten keinen Millimeter entgegenkommen und in den Chor des Rassismus einstimmen. Stattdessen gilt es, gemeinsame Wege aufzuzeigen, um das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Aus der soziologischen Forschung wissen wir, dass Mitbestimmung und erlebte Handlungsfähigkeit in der Arbeitswelt dafür sorgen, dass Menschen sich weniger ohnmächtig fühlen, weil sie tatsächlich Einfluss auf ihre Lebenslage haben. Das macht sie weniger anfällig für rechte und rassistische Narrative, die darauf aus sind, nach unten zu treten. Im Leben jenseits der Arbeit gilt nichts anderes. Doch wer das Gift des Rassismus nicht bekämpft, der wird keine kollektiven Lösungen finden. Was uns an den Haustüren erzählt wurde, war widersprüchlich. Trotzdem war es möglich, jenseits der Spaltung Gemeinsamkeiten zu finden. Das ist die Grundlage, an der wir ansetzen können.

Für mich zeigen diese Lehren vor allem eines: Es lohnt sich, hinzuhören. In den vergangenen Monaten habe ich immer mehr Glauben gewonnen, dass das, was wir gemacht haben – an der Haustür und darüber hinaus – einen Unterschied macht. Was wir daraus gemacht haben, ist eine Politik der Ehrlichkeit. Eine, die keine falschen Versprechungen macht, sondern den Menschen sagt: Vertraut nicht auf Politik, sondern seid selbst Politik. Auch über den Wahlerfolg hinaus. Wir haben die Menschen an den Haustüren eingeladen, mitzuentscheiden. Bei einer Stadtteilversammlung im Juni haben wir gemeinsam die Schwerpunkte meiner Kandidatur bestimmt – ausgehend von dem, was sie uns mitgeteilt haben. Beim Sommerfest, das wir im August in unserer Nachbarschaft veranstaltet haben, um die Menschen zusammenzubringen, kamen 500 Gäste. Viele von ihnen würden normalerweise nicht zu Parteiveranstaltungen kommen. Ich werde in meiner Nachbarschaft plötzlich auf der Straße erkannt und gegrüßt. Jeden Freitag kommen Menschen in meine Sprechstunde, die weiterreden wollen.

In den letzten Monaten fragten wir Menschen nicht mehr nur nach ihren Problemen, sondern auch, ob sie sich vorstellen könnten, mir ihre Stimme zu geben und Politik gemeinsam und ganz anders zu machen. Am Wahltag sagten 18.045 von ihnen ja. Mit ihnen mache ich weiter.

[1] Decker, O., Kiess, J., Brähler, E. (2023). Autoritäre Dynamiken und die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Die rechtsextreme Einstellung in den ostdeutschen Bundesländern. EFBI Policy Paper 2023-2. Leipzig: Else-Frenkel-Brunswik-Institut, S. 20.

[2] ebd., S. 23.