So wächst Deutschland trotz alternder Gesellschaft
Das Wichtigste über die alternde Gesellschaft in Deutschland ist bekannt. All die Menschen, die in den kommenden 67 Jahren in Rente gehen werden, sind heute schon geboren. Das Altersprofil der deutschen Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten ist damit vorgezeichnet, sieht man von den Ungewissheiten der Immigration ab. Weitaus unpräziser ist das Wissen darüber, wie genau die Alterung der Gesellschaft die Wirtschaft treffen wird.
Weniger Menschen, weniger Arbeitskraft, weniger Wirtschaftskraft – das ist eine der mutmaßlichen Auswirkungen. Weniger Arbeiter, mehr Rentner, noch größere Finanzengpässe in den Renten- und Sozialkassen eine andere. Weniger Menschen, die länger oder produktiver arbeiten, sind eine weitere Möglichkeit. Im Dreiklang von Bevölkerungsgröße, Arbeitszeit und Arbeitsproduktivität lauern viele Unbekannte, die die künftige Entwicklung unscharf werden lassen.
Ökonomen: „Weiter so“ bringt auch leichtes wirtschaftliches Wachstum
Mehr Licht in die Unsicherheit bringen die Ökonomen der KfW in einer Studie, die an diesem Dienstag veröffentlicht wird. Danach kann Deutschland auch mit einer schrumpfenden Bevölkerung wirtschaftlich weiter wachsen, aber weitaus schwächer als zuvor. In einem Szenario, das die Ökonomen „Weiter so“ nennen, würde die deutsche Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2050 um rund 0,7 Prozent im Jahr wachsen. Das ist spürbar weniger als die durchschnittlich 1,2 Prozent seit der Jahrtausendwende. In absoluten Zahlen und beim heutigen Stand des BIP bedeutet das: Die Wirtschaftsleistung in einem Jahr wüchse nur um 29 Milliarden Euro statt um 50 Milliarden Euro.

Anders als in der Aufforderung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), dass die Deutschen mehr arbeiten sollten, unterstellen die KfW-Ökonomen in dem „Weiter so“-Szenario nicht, dass die Zahl der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen steigt. Der Kern des Szenarios ist, dass die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte sich in der Zukunft fortsetzen. Das heißt insbesondere, dass die Zahl der Arbeitsstunden je Erwerbstätigen um 0,4 Prozent im Jahr sinkt und dass die Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde um 0,8 Prozent steigt.
Das nach diesem Szenario zu erwartende niedrigere Trendwachstum hat den unangenehmen Nebeneffekt, dass die deutsche Wirtschaft im Auf und Ab der Konjunktur viel häufiger als früher in die Stagnation oder in eine Rezession fallen würde. Deutschland müsste zukünftig etwa alle drei Jahre mit einer Stagnation oder einem Rückgang der Wirtschaftsleistung rechnen, heißt es in der Studie der staatseigenen Förderbank. In Japan, dessen Bevölkerung seit Ende der Neunzigerjahre in etwa so alterte, wie es Deutschland bevorsteht, sei das seit der Jahrtausendwende der Fall gewesen.
Erwerbstätigenquote müsste um 7,5 Prozentpunkte steigen
Dieses Szenario beschreibt keine rosige Zukunft, verlangt der deutschen Gesellschaft aber einiges ab. Es werde sich nur realisieren lassen, wenn mehr Menschen über eine Erwerbstätigkeit zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, schreibt der Autor der Studie, Martin Müller. Im Klartext: Mehr Menschen müssen arbeiten. Die Erwerbstätigenquote für die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahre müsste nach den Berechnungen bis zum Jahr 2050 von derzeit 77 auf 84,5 Prozent steigen. Auch die Rentner müssten in diesem Szenario mehr anpacken. In der Altersgruppe 65 Jahre und mehr müsste die Erwerbstätigenquote sich auf 16,8 Prozent in etwa verdoppeln.
Die positive Nachricht in der Studie ist, dass eine solche Steigerung der Erwerbstätigenquoten möglich ist. Darauf deuten internationale Vergleiche hin. In den Niederlanden oder in Schweden sind weit mehr Menschen im regulären Berufsalter erwerbstätig als in Deutschland, das im europäischen Vergleich schon weit oben liegt. Die Erwerbstätigenquote liegt dort gemäß der Studie um vier bis fünf Prozentpunkte höher als in Deutschland. Auch mehr Arbeit von Älteren ist in westlichen demokratischen Industriestaaten möglich. In Japan, Island oder Neuseeland arbeiten rund ein Viertel der Menschen von 65 Jahre oder älter, während es in Deutschland nur neun Prozent sind.
Japan zieht die KfW auch als Musterbeispiel dafür heran, dass in einer schrumpfenden Gesellschaft Wirtschaftswachstum möglich bleibt – wenn die Erwerbsbeteiligung weiter steigt und der Produktivitätsfortschritt aufrechterhalten werden kann. Wie in Deutschland sinkt in Japan die Arbeitszeit je Kopf, von 1997 bis 2022 um 14 Prozent, und in ähnlichen Maß die Gesamtzahl der Arbeitsstunden aller Erwerbstätigen. Das japanische Bruttoinlandsprodukt wuchs im Zeitraum dennoch um 15 Prozent oder um durchschnittlich 0,6 Prozent im Jahr. Japan gelang dieses Kunststück, weil zugleich die Arbeitsproduktivität um 32 Prozent oder um rund 1,1 Prozent im Jahr stieg. Um das zu erreichen, müsste Deutschland sich an die Decke strecken. Zuletzt ging die Arbeitsproduktivität zurück und lag nur noch so hoch wie vor vier Jahren, heißt es in der Studie.