So sang- und klanglos verschwand dasjenige Römische Reich

Durch Mord und Totschlag kam 475 der Kindkaiser Romulus Augustulus auf den weströmischen Thron. Seine Absetzung durch germanische Söldner nur wenige Monate später schrieb Weltgeschichte.
Als er im September des Jahres 476 vom Thron gestoßen wurde, war er vielleicht 16 Jahre alt. Ganze elf Monate hatte er den Purpur getragen, der ihn als Imperator und römischen Kaiser auswies. Und viel mehr ist auch nicht über seine Leistungen in dem höchsten Amt bekannt. Dennoch markiert sein Name, Romulus Augustulus, einen Epochenwandel. Denn mit seinem Abgang war das Römische Reich, das sein Namensvetter Romulus nach der Überlieferung 1228 Jahre zuvor begründet hatte, im Westen endgültig Geschichte.
Es waren zwei Eigenschaften gewesen, die Romulus Augustulus für die Kaiserwürde qualifiziert hatten: ein ehrgeiziger Vater und seine Unfähigkeit, den eigentlichen Anforderungen des Amtes gerecht zu werden. Denn längst waren es nicht mehr die Kaiser, die sich ihre höchsten Feldherren, die Heermeister, auswählten, sondern es waren umgekehrt die Generäle, die den Thron nach ihren Wünschen besetzten. Nicht umsonst nannte man den Kindkaiser mit der Verniedlichungsform des ersten Kaisers „Augustulus“.
Seit Valentinian III. den fähigen Heermeister Flavius Aëtius 454 eigenhändig umgebracht hatte, taumelte das auf Italien und Teile Galliens und Dalmatiens reduzierte Westreich seinem Untergang entgegen. Kaiser, die einen gewalttätigen Tod starben, lösten einander in schneller Folge ab, während hinter ihnen die Generäle ihr Game of Thrones spielten, wenn sie nicht gerade gegen germanische Kriegerverbände ins Feld zogen, die nach Lust und Laune über die enger werdenden Grenzen drängten.
Der erfolgreichste dieser Heermeister war Ricimer, ein Germane aus vornehmer suebisch-westgotischer Familie. Da es ihm gelungen war, einen Plünderungszug der Vandalen aus Afrika zu stoppen, wurde er von Kaiser Avitus 456 zum obersten Feldherrn ernannt. Während die Verleihung dieses Titels in der Autorität des Kaisers lag, musste der Kaiser selbst die Billigung seines östlichen Kollegen in Konstantinopel haben, um allgemein anerkannt zu werden. Da der Herrscher in Konstantinopel zudem über ein mächtiges Heer und große Finanzmittel verfügte, hielten sich die Usurpatoren mit dem Griff nach dem Purpur gern zurück.
Da Konstantinopel Avitus die Anerkennung versagte, ersetzte Ricimer ihn prompt durch einen gewissen Maiorian, dem bald ein Libius Severus und schließlich Anthemius folgten. Der fand zumindest das Wohlwollen Ostroms, was Ricimer in den Stand setzte, eine gemeinsame Flottenexpedition gegen die Vandalen zu starten. Die endete mit einer Katastrophe. Noch einmal ließ Ricimer einen Kaiser über die Klinge springen, bevor er selbst 472 das Zeitliche segnete. Olybrius und Glycerius, die nächsten Imperatoren, überlebten immerhin ihre kurzfristigen Regime.
Konstantinopel beförderte daraufhin den Heermeister Dalmatiens, Iulius Nepos, auf den vakanten Thron, der einen Mann namens Orestes zum Heermeister mit der Maßgabe berief, Restgallien für das Imperium zu retten. Der hatte aber eigene Vorstellungen von seinem Posten und proklamierte seinen Sohn Romulus zum Kaiser. Seiner absehbaren Ermordung wusste sich Nepos durch Flucht in den Diokletianspalast von Spalatum (Split) zu entziehen.
Damit war Orestes zwar der starke Mann hinter einem schwachen Kaiser. Aber seine Macht beruhte auf einem höchst unzuverlässigen Heer, das für seine Unterstützung üppig belohnt werden wollte. Bis heute ist unklar, was mit der Forderung nach einem „Drittel“ gemeint war, Italiens, der Steuereinnahmen oder der aufzuteilenden Grundstücke? Auf jeden Fall war das mehr, als Orestes zu geben bereit war.
Die germanischen Truppen, eine Mischung aus Herulern, Skiren und Thüringern, erhoben sich daraufhin unter der Führung des Odoaker, eines thüringisch-skirischen Söldnerführers, dessen Vater bereits dem Hunnen Attila gedient hatte. Odoaker ließ sich zum rex Italiae, zum König von Italien ausrufen und ermordete Orestes. Dessen Sohn soll er wegen seiner Jugend und Schönheit verschont und mit einer Jahresrente von 6000 Goldstücken auf ein Landgut bei Neapel geschickt haben.
„So ging nun das westliche Reich des römischen Volkes, welches … als erster Kaiser Octavian Augustus an sich gerissen hatte … zugrunde, während inzwischen die Könige der Goten Rom und Italien beherrschten“, zog der Geschichtsschreiber Marcellinus Comes das Fazit. Viele Zeitgenossen folgten ihm darin.
„Ob mit diesem Jahr 476 oder erst mit dem Todesjahr des in Dalmatien frühstückenden Iulius Nepos (480) das Weströmische Reich geendigt hat, bleibt letztlich eine akademische Streitfrage“, schreibt der Bamberger Althistoriker Hartwin Brandt. Zwar war mit Nepos 476 noch ein legitimer Kaiser am Leben, der von Ostrom anerkannt worden war, und Odoaker ging sogar so weit, seine Münzen in dessen Namen zu prägen. Aber das war den Zeitgenossen herzlich egal. Für sie hatte sich die machtlose Hülle, die das westliche Imperium längst geworden war, endgültig in Luft aufgelöst.
Doch ganz so einfach war es nicht. Denn aus der Perspektive Ostroms blieb Odoaker nur einer der zahllosen Usurpatoren, die es gewagt hatten, nach dem Purpur zu greifen. Als die Ostgoten unter der umsichtigen Führung ihres Königs Theoderich auf der Suche nach Nahrung und Beute den Balkan verwüsteten, konnte der oströmische Kaiser Zenon sie mit dem Auftrag, die illegale Erhebung niederzuschlagen, nach Italien lenken.
Als Heermeister mit dem hohen Rang eines Patricius versehen, erledigte der Ostgote denn auch seinen Auftrag. Er schlug Odoaker bei Verona, belagerte ihn in Ravenna und brachte ihn nach dessen Kapitulation 493 eigenhändig um. Seine Krieger riefen ihn daraufhin zum König der Goten und Römer aus, denen er eine dreißigjährige Friedenszeit bescherte.
Auch Romulus Augustulus profitierte davon. Chronisten berichten von einem königlichen Schreiben an einen gewissen Romulus, dem Schutz und Privilegien gewährt werden. In seinem Theaterstück „Romulus der Große“ von 1949 hat der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt den Untergang Westroms als Komödie dargestellt. Der entscheidende Dialog zwischen Romulus und Odoaker trifft die Banalität der Situation:
„Romulus: Was hast du mit mir vor?
Odoaker: Ich werde dich pensionieren.
Romulus: Mich pensionieren?
Odoaker: Der einzige Ausweg, den wir noch haben.
Schweigen …
Romulus: Die kaiserlichen Hungerjahre sind vorbei. Hier hast du den Lorbeerkranz und die Kaisertoga. Das Reichsschwert findest du bei den Gartengeräten und den Senat in den Katakomben Roms.“
Dieser Artikel wurde erstmals 2018 veröffentlicht.
Source: welt.de