Sludge Content: Die Zerstreuung der Zerstreuung
Stellen wir uns kurz vor, an dieser Stelle erschiene nicht nur Text, sondern der Bildschirm wäre noch ein- oder mehrmals unterteilt: Im einen Teil sähe man den Ausschnitt eines Videospiels, etwa Subway Surfers, Skate 3 oder Minecraft. In einem anderen Teil liefe eine beliebige Szene aus einem Film oder einer Serie oder ein nicht weniger zusammenhangloses Interview-Statement einer Celebrity, in einem dritten Teil wäre ein von einer Sprach-KI vorgetragener Reddit-Thread zu einem Thema von sehr allgemeinem Interesse, zum Beispiel „Was ist die schlimmste Hochzeit, auf der du je warst?“ Vielleicht gäbe es sogar noch eine weitere Splitscreen-Ebene mit einem Clip aus dem Oddly-Satisfying-Genre, etwa eine Hand, die auf visuell angenehme Art an einer Seife herumschnitzt.
Würde irgendjemand sagen, dass er diese wahllose Zusammenstellung verschiedener Inhalte gut findet? Vermutlich nicht. Würde es trotzdem vielen Menschen schwerfallen, sich loszureißen? Auf jeden Fall!
Bei TikTok, wo man sich ohnehin durch eine eher wahllose Flut von Kurzvideos swipt, kann man derzeit betrachten, welche Art von Inhalt gewinnt, wenn die einzigen relevanten Messgrößen Aufmerksamkeit und Verweildauer sind. Seit einiger Zeit tut sich der Abgrund auf, auf den wir mit dieser Einstellung zusteuern. Und zwar auf eine Grube aus knietiefem Medien-Matsch, auf Englisch: Sludge Content.
Bei Sludge Content handelt es sich nicht um einen trendenden Hashtag. Die Bezeichnung stammt von einem kanadischen Journalisten und ist abfällig gemeint. Sludge Content hat daher auch keine Fans oder Stars, aber dennoch eine hohe Anziehungskraft.
Kurz gesagt: Sludge Content versucht, auf wirklich allen denkbaren Ebenen Aufmerksamkeit herbeizukitzeln. Ohne jeden Anspruch, ohne jede Botschaft. Ein Second–, Third- oder sogar Fourth-Screen-Konsum sozusagen, eine Zerstreuung der Zerstreuung, eine Erweiterung des Prinzips TikTok durch die Gleichzeitigkeit mehrerer Inhalte. Wenn dir die Filmszene nicht zusagt, willst du doch wenigstens wissen, ob der Polizist das Subway-Surfers-Männchen zu fassen bekommt oder die Seife restlos zerschnitzt wird, nicht wahr?
Wer genau hinter der Flut der Sludge-Videos steckt, ist unklar. Manche vermuten, es sind Content-Farmen. Andere glauben, dass sich die Clips möglicherweise KI-automatisiert produzieren lassen. Fest steht: Dank der laxen Copyright-Kontrolle von Tiktok und dem simplen Video-Editor lässt sich Sludge Content mit minimalem Aufwand produzieren. Und auch wenn jedes Video das Hirn des Zuschauers mit Matsch flutet und damit auch nicht selten überfordert – das Weiterswipen fällt gar nicht so leicht. Auf TikTok gibt es bereits Videos, die sich über die Sludge-Content-Flut lustig machen: Wir sehen eine Lehrerin beim Unterricht, in der Hand hält sie einen Laptop, sodass die Schüler ihn sehen können, darauf läuft ein Subway-Surfers-Clip. Die Überschrift des Videos: „Trying to teach Gen Z“
Der Witz, wonach sich die junge Generation nur noch mit Sludge Content erreichen lässt, hat noch eine weitere Pointe: Sludge Content ließe sich eigentlich nur noch steigern, wenn man das Prinzip ins reale Leben überträgt, digital ist es nahezu ausgeschöpft. Sludge Content ist sowohl sichtbares Hintergrundrauschen als auch die fast schon künstlerisch wertvolle Bloßstellung der Idee, dass Aufmerksamkeit ein geeigneter Messwert für gute Inhalte ist. Ein Qualitätskriterium, das sich inzwischen überall findet und weit über vermeintlich Smartphone-geschädigte Teenager hinausreicht: Wer eine Netflix-Dokumentation ansieht, wird in letzter Zeit oft in den ersten zwei Minuten mit einem Im-Film-Trailer angefixt, ein Supercut aus allen guten Szenen, damit man bloß nicht doch noch umschaltet. Das Intro ist aus vielen Popsongs verschwunden, lieber direkt zum Refrain, man will den Hörer auf Spotify auf keinen Fall verlieren.
Sludge Content erfüllt diese Maßstäbe unserer Aufmerksamkeitsökonomie in Reinform: Er braucht keine Follower, er hat keine Nische und keine Botschaft. Niemand hat nach ihm gefragt, trotzdem klickt er sich blendend. Er ist blitzschnell produziert, reizt all unsere Sinne gleichzeitig und vermittelt absolut gar nichts. Zynisch gesprochen: Er ist das perfekte Kulturprodukt unserer Gegenwart.