Sinan Selen | Neuer Verfassungsschutz-Präsident Sinan Selen: Ist dieser Mann ein Nazi-Waidmann?
Sinan Selen wird neuer Chef des Verfassungsschutzes – als erster Behördenchef mit Migrationsgeschichte. Wer ist der Mann? Und ist seine Berufung an die Spitze des Inlandgeheimdienstes Symbolpolitik oder überfällige Normalität? Ein Porträt
Was haben wir von Sinan Selen an der Spitze des Bundesverfassungsschutzes zu erwarten?
Foto: Odd Andersen/Getty Images
Extremismusprävention darf man nicht Rechtsextremen überlassen. Die Grundrechte bieten eine Gebrauchsanleitung für die Demokratie. Menschenwürde kann man beschreiben, man muss sie aber auch in die Lebenswirklichkeit umsetzen. Diese und andere verfassungspatriotische Wahrheiten äußerte Sinan Selen 2019 in einer Diskussionsrunde des Deutschen Präventionstages, einer der wichtigsten sicherheitspolitischen Konferenzen. Damals war der Kölner frischgebackener Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Jetzt soll er am Schreibtisch des Präsidenten Platz nehmen.
Sein bisheriger Chef Thomas Haldenwang kandidierte bei der Bundestagswahl für die CDU – erfolglos. Haldenwangs Zeit an der Spitze des Inlandsgeheimdienstes ist damit trotzdem vorbei. Was haben wir von seinem Nachfolger zu erwarten?
Sinan Selen kam als Vierjähriger nach Deutschland
Das berufliche Leben von Sinan Selen begann vor 25 Jahren. Nur drei davon verbrachte er außerhalb des Sicherheitsapparats: Ab 2016 arbeitete er für den Reisekonzern TUI. Gefallen zu haben scheint es ihm dort nicht. 2019 wechselte er zum BfV, direkt als Vizepräsident, ohne Umwege. Wenn Selen nun das höchste Amt der Behörde übernimmt, dann ist das nicht nur ein personeller Wechsel, sondern auch ein symbolischer. Der 1972 in Istanbul geborene Jurist ist der erste Behördenchef mit Migrationshintergrund, der an die Spitze des Inlandsgeheimdienstes rückt.
Selen kam als Vierjähriger nach Deutschland, seine Eltern sind Journalisten. Er studierte Rechtswissenschaften an der Uni Köln, mit Fokus auf Innen- und Justizpolitik in Europa sowie Europarecht. Ab 2000 arbeitete er im Bundeskriminalamt, wo er unter anderem den Personenschutz des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und des Innenministers Otto Schily (beide SPD) organisierte.
Ende 2006 wechselte er ins Bundesinnenministerium und übernahm die Leitung des Referats „Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus“. Schon die Bezeichnung zeigt, wie stark in den 2000er Jahren islamistischer Terrorismus und Migration politisch miteinander verknüpft wurden. Anschließend war Selen im Bundespolizeipräsidium tätig, wo er sich mit Schleusungskriminalität und Pirateriebekämpfung beschäftigte. 2012 wechselte er ins Bundesinnenministerium, arbeitete dort in der Abteilung für öffentliche Sicherheit, erneut mit Fokus auf Terrorismusbekämpfung. Auf das Intermezzo bei TUI folgte schließlich der Verfassungsschutz.
Dass Akten zum NSU geschreddert wurden, bleibt ein Skandal
Selen gilt als Vermittler. Dass er im Bereich Rechtsextremismus deutliche Akzente gesetzt hätte, ist weniger bekannt. Dabei liegt genau hier der wunde Punkt der Behörde. Während der Verfassungsschutz seit Jahrzehnten mit massiver Energie auf migrantische Milieus, linke Gruppen und islamistische Netzwerke schaut, waren es immer wieder journalistische Recherchen, die rechtsextreme Netzwerke in Polizei, Bundeswehr oder Neonazi-Szenen aufdeckten.
Der Mord an Walter Lübcke, der NSU-Komplex, die Drohschreiben des „NSU 2.0“ – all das wirft ein Schlaglicht darauf, dass der Verfassungsschutz ausgerechnet dort, wo die Demokratie am akutesten bedroht ist, viel zu lange blind blieb. Selen wird die Frage beantworten müssen, ob er diesen blinden Fleck ernsthaft behebt. Dass Akten zum NSU geschreddert wurden, dass V-Leute in der Neonazi-Szene bezahlt und geschützt wurden, bleibt ein Skandal, der bis heute am Fundament der Institution rüttelt. Dass ausgerechnet ein Mann mit Migrationsgeschichte an ihre Spitze rückt, ist auf den ersten Blick ein Bruch mit alten Gewissheiten. Doch es bleibt fraglich, ob dieser Bruch mehr als Symbolpolitik ist.
Selen muss organisatorische Probleme angehen wie die mangelnde Transparenz, die politische Instrumentalisierung und die fast vollständige Abschottung gegenüber demokratischer Kontrolle. Und dann ist da noch die Debatte um ein AfD-Verbotsverfahren, die schon Selens Zeit als Vizepräsident entscheidend prägte und ihn im neuen Karriereschritt begleiten dürfte. Anfang Oktober kündigten die rechtspolitischen Sprecher der SPD-Fraktionen der Landtage und des Bundestages an, alle Erkenntnisse über die Verfassungsfeindlichkeit der Partei auszuwerten und einen Verbotsantrag zu stellen, falls sie diesen für erfolgversprechend halten.
Wie wird Sinan Selen in Sachen AfD-Verbot agieren?
Damit ein solches Verfahren nicht in dieselbe Falle stolpert wie das gescheiterte NPD-Verbot 2003, spielt der Verfassungsschutz eine entscheidende Rolle. Denn damals musste das Verfahren eingestellt werden, weil zu viele sogenannte V-Leute in der Partei aktiv waren, also Menschen, die vom Verfassungsschutz als verdeckte Ermittler angeworben wurden. Droht so etwas auch bei der AfD?
Unmöglich ist es nicht, schließlich beobachtet der Geheimdienst die rechtsextreme Partei offiziell und kann damit auch V-Leute anwerben. Diese müssten rechtzeitig abgezogen werden, damit das Beweismaterial, das diverse Fachleute bereits sammeln, auch tatsächlich von der AfD stammt. Hier kommt Sinan Selen ins Spiel. Wäre der Verfassungsschutz eine Behörde wie jede andere, müsste er die Öffentlichkeit über seine nächsten Schritte informieren. Ist sie aber nicht.