Siegfried Unseld: Wie Siegfried Unseld seine NSDAP-Vergangenheit unterschlug

Vor einer Woche vermeldete die ZEIT den Fund von Siegfried
Unselds Karteikarte aus der NSDAP-Zentralmitgliederkartei
und fand damit ein breites Echo in den Medien. Unseld war 1942 in die NSDAP
eingetreten, was seinen Biografen bisher unbekannt geblieben und – wie der
Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in seiner Reaktion in der ZEIT zutreffend
schrieb
– selbst bei der umfangreichen Publizistik anlässlich von Unselds 100.
Geburtstag am 28. September 2024 nicht erkannt worden war.

Der Fund rief weit divergierende Einschätzungen und
Bewertungen
hervor. Es wurden aber auch konkrete Tatsachenfragen gestellt: Hat Unseld sich je zu seiner
Mitgliedschaft geäußert? Hat er sie bestätigt oder geleugnet? Wurde Unseld
überhaupt je dazu befragt? Wir haben neue Dokumente in den Archiven
recherchiert, mit denen man sich dieser Frage aus der Perspektive der
unmittelbaren Nachkriegsjahre annähern kann.

Zentral ist dabei ein naheliegendes, aber bislang von der
Unseld-Literatur nicht rezipiertes Dokument: Unselds im Staatsarchiv
Ludwigsburg unter der Signatur EL 902/22 Bü 12325 aufbewahrte, von den
Verfassern lokalisierte und vom Archiv mittlerweile digitalisierte
Spruchkammer-Akte, mit der sein Entnazifizierungsverfahren dokumentiert wurde.
Sie erlaubt es, anhand einer sehr zeitnahen Quelle aus der frühen
Nachkriegszeit weitere Fragen zu Unselds NSDAP-Mitgliedschaft zu beantworten.
Denn die Akte enthält selbst einige neue Informationen zu seinem Werdegang und
seiner familiären Einbettung. Und sie verhilft zu neuen Einsichten zu Unselds
Umgang mit seiner Parteizugehörigkeit, wenn man sie mit seinem Gesuch zur
Immatrikulation an der Universität Tübingen vom 13. Juli 1947 vergleicht
(Signatur: Universitätsarchiv Tübingen, 364/28784).

Der Entnazifizierungsakte zufolge erschien am 21. November
1946, einem Donnerstag, der zweiundzwanzigjährige „ledige Siegfried Unseld,
Schüler, geboren am 28.9.24 in Ulm, wohnhaft in Blaubeuren“ vor der
Spruchkammer Ulm an der Donau (Land) und gab die eidesstattliche Erklärung ab,
„[d]er NSDAP […] im Jahre 1942 […]“ beigetreten zu sein.


Siegfried Unseld: Die eidesstaatliche Erklärung

Die eidesstaatliche Erklärung

Das Unseld vorgelesene, von ihm genehmigte und
unterschriebene („v.g.u.“) Dokument schafft zunächst in den vergangenen Tagen
in der Presse geäußerte Annahme aus der Welt, Unseld habe von seiner
Partei-Aufnahme nichts gewusst.

Zunächst gibt Unseld an, am 15. Juni 1933 in das Jungvolk
eingetreten zu sein, dem er bis 1942 ununterbrochen angehörte. Gemeint ist das
„Deutsche Jungvolk“, die Teilorganisation der Hitler-Jugend (HJ) für zehn- bis vierzehnjährige Jungen. Deren
Erfassungsgrad war von 1,4 Prozent Ende 1932 auf 48 Prozent Ende 1933
angestiegen: Nunmehr gehörten im Deutschen Reich von 2,3 Millionen Jungen
zwischen 10 und 14 Jahren immerhin schon 1,13 Millionen dem Deutschen Jungvolk an.
Bemerkenswert ist jedoch zweierlei: Unseld erinnerte sich an ein exaktes
Eintrittsdatum, und er trat dem Jungvolk zu einem Zeitpunkt bei, als dies
formal noch nicht verpflichtend war. Bekanntlich schickte sich die HJ erst in
den Jahren zwischen 1937 und 1939 an, zu einer Organisation zu werden, in der
alle Jugendlichen im Alter von zehn bis achtzehn Jahren Dienst tun mussten.

1940, so Unseld in der Akte weiter, sei er dann zum
„Oberjungzugführer“ befördert worden; ein Amt, das es in dieser Bezeichnung in
der HJ nicht gab. Ein Jungzugführer „führte“ im Regelfall drei bis vier
Jungenschaften, die aus jeweils zehn Jungen bestanden, hatte also etwa 30 bis
40 Jugendliche unter sich. An anderer Stelle bezeichnete sich Unseld selbst
auch als Fähnleinführer: ein Amt, das vier Jungzüge umfasste. Diese Angaben
müssen sich nicht widersprechen: „Oberjungzugführer“ mag Unseld als Synonym für
den „Fähnleinführer“ gedient oder als Zwischenglied fungiert haben.

Bemerkenswert ist ebenfalls Unselds Betonung der
Ehrenamtlichkeit, die auf den unteren Ebenen der HJ und des Jungvolks ohnehin
gang und gäbe war. Offenbar war er sich darüber im Klaren, dass seine
HJ-Mitgliedschaft eben doch eine Funktionärstätigkeit implizierte. Er war kein
einfacher Hitler-Junge, sondern, wie es im zeitgenössischen Jargon hieß, ein
„Führender“. Jugend wurde hier, wie es in der Propaganda hieß, von Jugend
geführt.

Sein Eintritt in die NSDAP im Jahre 1942 war insofern
folgerichtig. Unseld kommentiert ihn in der eidesstattlichen Versicherung mit
dem Satz „Der NSDAP trat ich im Jahre 1942 mit noch nicht 18 Jahren bei.“

Unseld mag im Entnazifizierungsverfahren für Milde
angesichts des jugendlichen Beitrittsalters plädieren, er sagt aber weder, er
sei der NSDAP nicht beigetreten, noch, er sei ohne sein Wissen aufgenommen
worden. Tatsächlich war die NSDAP 1941 schleichend dazu übergegangen,
siebzehnjährige Jugendliche zu rekrutieren, obwohl das Eintrittsalter formal
noch bei 18 Jahren lag. Einer Unterschrift des gesetzlichen Vertreters auf dem
Mitgliedsantrag bedurfte es seit 1942 nicht mehr, sodass Unseld die Mitgliedschaft
in eigener Verantwortung beantragen konnte.

Wie aber war es eigentlich im Entnazifizierungs-Verfahren zu
einer „Vorladung“ Unselds gekommen, bei der er eine eidesstattliche Erklärung
abgeben musste? Das Verfahren war von jenem seines Vaters getrennt, der noch im
April 1946 zeitgleich mit seinem Sohn den Meldebogen ausgefüllt hatte, aber am
21. November keinen Termin bei der Spruchkammer hatte. Hintergrund ist vielmehr
die sogenannte Jugend-Amnestie vom 6. August 1946, aufgrund derer für alle nach
dem 1.1.1919 geborenen Betroffenen die Spruchkammer das Verfahren einzustellen
habe, wenn es sich nicht um „Hauptschuldige“ oder „Belastete“ (Kategorien 1 und
2 der Entnazifizierung) handle. Ein solcher Einstellungsbeschluss wurde für
Siegfried Unseld noch am 21. November 1946 erlassen. Diese Einstellung war ein
wertvolles Ziel. Um es zu erreichen, war es sinnvoll zuzugeben, was die
Alliierten dank erhaltener Parteikartei ohnehin hätten überprüfen können: die
„bloße“ Mitgliedschaft in der NSDAP, die mittlerweile ohnehin kein Hindernis
mehr war, um die Einstellung zu erhalten.

Hier könnte die Analyse enden, wenn Siegfried Unseld nicht
sowohl im April 1946 als auch im Juli 1947 bei der Einschreibung an der
Universität Tübingen andere, teils falsche Angaben gemacht hätte.