Sicherheitspolitik: Immer muss der Sheriff ran

In der Serie “Politisch motiviert” ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 11/2023.

Stadtklischees
sind nur so lange lustig, bis sie wahr werden, und gerade in Berlin scheint man den eigenen Ruf nur noch bedingt heiter zu finden. Ausgerechnet in der Stadt,
die Markus Söder seit Jahren als gleichermaßen gott- wie gesetzlose Partyhölle geißelt,
hat bei der jüngsten Wahl zum Abgeordnetenhaus das Sicherheitsbedürfnis gewonnen: Das Thema Sicherheit und Ordnung spielte für 23 Prozent der Wähler die größte Rolle und war damit wichtiger als Wohnen oder Klimaschutz.

Gerade
laufen die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD. Die Union, die sich
ins Wahlprogramm geschrieben hatte, der “Schutzmann an der Ecke” solle wieder “zum normalen Straßenbild” gehören, konnte 28 Prozent der Wähler überzeugen, zehn
Prozent mehr als Sozialdemokraten oder Grüne. Auch im Zentrum der Stadt, nicht
allein in konservativeren Außenbezirken, verfing die auf innere
Sicherheit gepolte Kampagne der CDU, die flächendeckende Videoüberwachung an “kriminalitätsbelasteten Orten” und auch
sonst allerhand gegen Verbrechen und Vermüllung versprach.

Obwohl
die Zahl der erfassten Straftaten in den vergangenen Jahren eher rückläufig war, bleibt Berlin
die unsicherste Stadt Deutschlands, die Krawalle in der Silvesternacht dürften viele
zusätzlich verunsichert haben.
Der Wählerauftrag an den Berliner CDU-Parteivorsitzenden Kai Wegner lautet auch: Sheriff, räum die Stadt auf. Einer linken Partei trauen
das weniger Wähler zu.

Das
mag wenig überraschen, denn traditionell hat die politische Linke nicht das
entspannteste Verhältnis zu staatlichen Kontrollinstanzen. Wie viele Freiräume für
Jugend- oder Gegenkultur zur Verfügung stehen, gilt ihr als ein Gradmesser für den
zivilisatorischen Stand einer Gesellschaft. Besonders für nicht weiße und
prekär lebende Menschen kann der “Schutzmann an der Ecke” außerdem eher Bedrohung als Sicherheit verheißen.

Es
ist ein Coup der Imagepolitik von Konservativen, dass diese oft als
Alleingaranten für Recht und Ordnung gelten. Immerhin hat sich allein die
These, Blaulicht auf heavy rotation löse städtische Sicherheitsprobleme,
als nicht haltbar erwiesen. In Berlin scheiterte vor ein paar Jahren etwa der
damalige CDU-Innensenator Frank Henkel krachend mit seiner “Null-Toleranz-Politik”, die den vom Drogengeschäft geprägten Görlitzer Park
befrieden sollte.

Wer
über Sicherheit im öffentlichen Raum sprechen will, klingt schnell nach Law-and-Order-Cowboy. In der Hauptstadt bedient man damit außerdem leicht die
Erzählung vom failed state Berlin, die gewiss Berechtigung hat, aber eben
auch durchwirkt ist von hässlichsten Vorurteilen gegen alles, was nicht in die
Leitzordnerhaftigkeit des deutschen Horizonts passt. Angst kann auch ein
politisches Instrument sein.

Progressive Sicherheitsdebatten

In
den späten Siebzigern beschrieb der Soziologe Stuart Hall in seinem Werk Policing
the Crisis
, wie Medien, Politik, Polizei und Justiz in Großbritannien nach
einem Straßenüberfall in London ohne belastbare Daten die Angst vor mugging
– also Straßenraub – in britischen Großstädten schürten, einem Begriff, der sich
zuvor vor allem auf die Verbrechenswelt in den Vereinigten Staaten bezog. Vor
lauter moral panic verschob sich der öffentliche Fokus: weg von den
Ursachen der Armut, hin zur Sehnsucht nach der harten Hand des Gesetzes.

Es
hat also seine Gründe, dass viele Linke skeptisch bleiben, wenn mal wieder ein neuer “Brennpunkt” ausgerufen, wenn urbanes Grundrauschen zum Sound des Niedergangs
hochgejazzt wird. Aber manchmal ist Elend eben auch einfach Elend. Ohnehin ist
es fahrlässig bis zynisch, obdachlose und drogensüchtige Menschen, die durch
alle Raster gefallen sind, als eine Art Grundausstattung cooler Abenteuerkieze
zu betrachten. Verwahrlosung ist nur dann eine ästhetische Entscheidung, wenn
man eine Wahl hat. 

Gerade
prekäre Großstadtbewohner können nicht einfach wegziehen, wenn ihnen das Drogengeschäft
in ihrer Straße zu raumgreifend wird. Gerade Frauen, behinderte, ältere oder in
ihrer Wehrhaftigkeit eingeschränkte Menschen müssen ausweichen können vor
Leuten, die sich in ihrer Not unkalkulierbar verhalten. Das ist zunächst mal keine
reaktionäre, sondern eine soziale Forderung, die Teilhabe garantiert. 

Es
stimmt, dass die Sorge um diese Gruppen gern vorgeschoben wird, um
Sicherheitsverschärfungen im öffentlichen Raum durchzudrücken, nicht selten grundiert
von rassistischem Geraune oder Gebelle. All das ändert aber wenig daran, dass
man selbst von großstadtgestählten Menschen nicht verlangen kann, allein auf
mittel- und langfristige Lösungen gegen Prekarisierung zu vertrauen, wenn es so
richtig brennt in der Nachbarschaft. Man kann Konzepte wie akzeptierende
Drogenarbeit bedingungslos unterstützen und sich dennoch wünschen, im eigenen
Hausflur nachts nicht auf Unbekannte mit Fixerbesteck zu treffen. 

Wirklich
wahr ist die konservative Erzählung, dass sich die politische Linke keine
Gedanken darüber macht, wie mit Armut und Gewalt im öffentlichen Raum umzugehen
ist, natürlich nicht. Dass öffentliche Sicherheit dennoch nicht als Kernkompetenz
der Linken wahrgenommen wird, liegt allerdings auch daran, dass es Fantasie
braucht, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der man akute Probleme des
Zusammenlebens ohne Schutzmann an jeder Ecke lösen kann. Und je
fantastischer eine Idee, desto besser muss man sie öffentlich erklären.

Ruth
Wilson Gilmore, eine der führenden Schwarzen US-Intellektuellen, hat einmal
gesagt, die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen setze voraus, dass wir
eine Sache ändern: nämlich alles. Es ist ein Dilemma für die Linke,
dass sie die öffentliche Sicherheit in den Grenzen einer Ordnung diskutieren
muss, die sie eigentlich ändern will. Umso wichtiger wären deshalb mehr progressive Sicherheitsdebatten, die das Sicherheitsgefühl der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das ist nicht einfach und nicht spaßig. Aber wichtig, weil sonst der Sheriff übernimmt.