Shame on Shein: Paris boykottiert Filialeröffnung dieser Ultra-Fast-Fashion-Kette

Als Jugendliche, als ich noch im Berliner Bezirk Marzahn wohnte, da war es das Größte, sich am Bahnhof Springpfuhl in die S7 zu setzen, bis zum Zoologischen Garten zu fahren und dort, am Ku’damm, bei H&M shoppen zu gehen, bevor es ein Maxi-Menü bei McDonald’s und einen Kinobesuch gab. Heute sind Marken wie H&M, Promod oder Zara geradezu Luxus, wenn man auf die Billigkonkurrenz von Primark, Temu oder Shein schaut.

Letztere sind nicht mehr Fast-, sondern Ultra-Fast-Fashion-Ketten. Shein produziert Schätzungen zufolge eine Million Kleidungsstücke pro Tag, per Flugzeug werden täglich 5.000 Shein-Produkte in die Welt verschickt. Viele der Teile landen dann schnell wieder im Müll oder bei Kleiderspenden, von denen berichtet wird, dass an jedem zweiten Shein-Kleidungsstück noch das Preisschild hängt.

Kinder-Sexpuppen im Angebot

Beim Thema Shein braucht man nach verheerenden Fakten und Zahlen gar nicht lange suchen, angefangen bei der beschämenden Öko-Bilanz bis zu den Arbeitsbedingungen in den Produktionsstätten. Und gerade ist Shein noch wegen einer anderen Sache unter Beschuss: Weil auf der Internet-Plattform von Shein Sexpuppen in Kinderoptik angeboten wurden, droht Frankreichs Regierung dem Onlinehändler mit einer Zugangssperre. „Die Grenzen wurden überschritten“, sagte Frankreichs Wirtschaftsminister Roland Lescure im Sender RMC. „Wenn sich dieses Verhalten wiederholt, sind wir im Recht, den Zugang zu der Plattform Shein auf dem französischen Markt zu verbieten, und ich würde dies tun.“

Shein teilte kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe mit, dass die Produkte von der Seite genommen worden seien. Der Fall werde intern aufgearbeitet, wie es in derartigen Fällen gern heißt. „Wir nehmen diese Situation extrem ernst“, zitierte der Billig-Onlinehändler seinen Sprecher Quentin Ruffat auf X.

Doch widmen wir uns jetzt lieber dem Modeangebot von Shein: Bislang begegneten wir der Marke zumeist ganz oben bei der Online-Suche nach günstigen Kleidungsstücken, ab in den digitalen Warenkorb, Click, Pay und schon geht irgendwo auf der Welt ein Päckchen auf die Reise. Das soll jetzt anders werden. Das Unternehmen will Gesicht zeigen und beginnt damit ausgerechnet in der europäischen Stadt, die als Inbegriff für Luxus und Mode gilt.

Kaufhaus Bazar de l’Hôtel de Ville in finanzieller Schieflage

Im altehrwürdigen Pariser Kaufhaus Bazar de l’Hôtel de Ville (BHV) kann man auf der 6. Etage ab dem 5. November Shein nun auch anschauen und anfassen. Das BHV, Nummer 52 Rue de Rivoli, liegt genau gegenüber dem Pariser Rathaus, beherbergt seit der Eröffnung im Jahre 1856 zahlreiche Mode- und Designmarken und ist neben den Galéries Lafayette ein emblematischer Ort für Mode, Luxus und Konsum.

Allerdings geriet das Haus 2023 in finanzielle Schieflage, nachdem es von der französischen Société des Grands Magasins (SGM) aufgekauft wurde, die sich auf die Revitalisierung großer Kaufhäuser in Innenstädten spezialisiert hat und unter anderem auch mehrere Filialen der Galéries Lafayette betreibt. Die Kooperation mit Shein sollte der Ausweg aus dem finanziellen Engpass sein, droht aber nun mehr und mehr zum Albtraum zu werden.

Proteste gegen Shein

Denn der zweifelhafte Ruf des Online-Giganten verschreckte andere Partner des BHV, nicht zuletzt Disneyland Paris, das traditionell die aufwendig dekorierten Weihnachtsvitrinen des Geschäfts gestaltet und sich wenige Wochen vor deren Aufbau, zurückzog. Viele andere Marken sitzen bereits auf gepackten Koffern, die Reihen lichten sich spürbar, Angestellte bangen um ihre Jobs.

Doch genau darauf, so glauben einige Wirtschaftsexperten, spekuliere Shein, weil es sich peu-à-peu im gesamten Gebäude breitmachen wolle und so einen kompletten Shein-Store an einer repräsentativen Adresse betreiben könne. Was für ein Symbol für die Macht Chinas über unsere Art zu konsumieren und zu leben! Deswegen hat sich die sozialistische Noch-Bürgermeisterin Anne Hidalgo gegen Shein ausgesprochen und selbst der gerade erst ernannte, wirtschaftsnahe Handelsminister Serge Papin nannte die Neueröffnung ein „schlechtes Signal“. Bei der Petition unter dem Motto „Paris mérite mieux que Shein“ (Paris verdient was Besseres als Shein) sind bereits über 120.000 Unterschriften zusammengekommen.

Teilhabe definiert sich auch über Konsum

Aber noch mal zurück zu Marzahn und dem Ku’damm, denn etwas darf man bei der Debatte nicht ausblenden: Während auf der einen Seite gut situierte Klienten der Luxusmarken mit Abscheu und Verachtung auf Shein (vielleicht mitunter sogar auf die Menschen, die dort einkaufen gehen) schauen, ermöglicht es anderen, überhaupt erst am Shopping-Erlebnis im Stadtzentrum teilzunehmen.

Sich nicht auf den Schaufensterbummel reduzieren zu müssen, sondern auch einkaufen zu können. Statt seine Zeit allein auf den Apps der Billigprodukte zu verbringen, wieder am Großstadtleben teilhaben. Und das in Zeiten, in denen der eigene Style möglichst zeitgemäß, weil Instagram-tauglich sein muss, also auch eine Ware ist. Egal, wie man dazu steht: In einem kapitalistischen System, definiert sich Teilhabe auch über Konsum und erst recht über das Aussehen. Und aus dieser Logik heraus, könnte man Shein an der Seine auch als eine Demokratisierung der Stadtnutzung interpretieren, gerade in einer der teuersten europäischen Metropolen, wo die meisten „normalen“ Menschen weit ab in die Peripherie verdrängt worden sind.

Natürlich endet die Logik da, wo die internationale Textilindustrie auf billige Arbeitskräfte in Entwicklungs- und Schwellenländern setzt, sodasss am Ende französische Arbeitsplätze und Kaufkraft zerstört werden. Dass dieses chinesische Modell sich nicht mehr hinter Apps und Webseiten versteckt, sondern plötzlich ganz sichtbar vor unseren Augen existiert, ist wohl das eigentlich Verstörende an der Sache.

Was längst schon Realität ist – made in China überall –, konnten wir bislang ausblenden, wenn wir nicht allzu genau aufs Etikett oder den Absender der Päckchen schauten. Auf diese chinesischen Sendungen will Frankreich übrigens bald Steuern erlassen. Die Shein-isierung wird nach der Primark-isierung unserer Innenstädte aber kaum mehr aufzuhalten sein.