Schöner leben: Die graue Matratze

Die graue Matratze passt gut in diese
trüben Tage, wie sie da so liegt, quer auf dem ebenfalls grauen Bürgersteig
zwischen einer nicht so gut laufenden The-Barn-Filiale und dem Restaurant Nobelhart &
Schmutzig, das seine betont unauffällige Eingangstür nur selten zu öffnen
scheint. Die gut betuchten Besucher gleiten dann so schnell hinein, dass ein
Blick aufs Interieur unmöglich bleibt. Vielleicht ist es ja in greige gehalten, jener Fantasiefarbe,
in der die meisten Bäder jener Wohnungen gehalten sind, die eine Immobilienfirma
mit dem Fantasienamen Fantastic Frank
auf diversen Social-Media-Kanälen mit Schmeichelvokabular zum Verkauf anbietet
für um die zehntausend Euro pro Quadratmeter.

Die graue Matratze hat definitiv einen
gewissen Greige-Faktor, war sie doch
ursprünglich einmal beige, vielleicht sogar weiß, bevor sie hier auf der
südlichen Friedrichstraße in Berlin von Wind und Wetter und auf ihr herum trampelnden, gen
Checkpoint Charlie eilenden Touristen verdreckt wurde. Ich erinnere mich auf
jeden Fall an eine deutlich hellere Version vor … Tja, wie lange liegt sie
eigentlich bereits hier vor unserem Haus? Mindestens drei, eher vier Wochen.
Meistens verschwinden die von irgendwem vor dem Sozialbau aus den Siebzigerjahren
abgelegten Dinge, aber eben längst nicht immer.

Das Motorrad namens Anima etwa mitsamt seinem Lieferando-Aufkleber stand
bereits vor drei Jahren unter der kleinen Überdachung gleich neben der
Eingangstür. Damals war das Café
Westberlin unten im Haus noch nicht abgebrannt, und The Barn hatte sich dort noch nicht in seinem Standortmanagement
geirrt. Und der Unrat lag eher hinter dem Gebäudekomplex rund um die
zahlreichen Mülltonnen verstreut, wo die Fahrer der diversen Lieferdienste ihre
Räder mit den bunten Rucksackhalterungen parken, wenn sie nach Hause kommen.
Gleichsam im Sinne einer Symmetrie in Müll hat sich vorne zu dem ausgemusterten
Motorrad und der Matratze vor ein paar Tagen eine Holzpalette gesellt. Dieses Triangle of Sadness formt den
Mittelpunkt eines weiteren Dreiecks, bestehend aus dem Checkpoint Charlie, der
Agentur für Arbeit und der Polizeidirektion 5.

Die U-Bahn-Haltestelle
Kochstraße/Checkpoint Charlie spült im Fünf-Minuten-Rhythmus treppauf durch
Berlins kältesten U-Bahn-Windfang eilende Menschen direkt vor die sich
zunehmend ins gräulich-schwarz verfärbende Matratze. Ein Scherzbold unter ihnen
hat der Matratze eine Basecap mit dem Schriftzug „Vienna“ aufgesetzt. Matratzen
sind die Haustiere unter dem Einrichtungsbedarf: Man setzt sie gerne aus, wenn
sie ihre Schuldigkeit getan haben, oder man wirft sie aus einem Fenster meines Wohnhauses etwa. Tagtäglich verfolge ich also nun den Wandel der Matratze von greige zu glack. Ja, glack kannst du gerne ab sofort für deine Maklerprosa verwenden, Fantastic Frank, schenke ich dir. Vor allem aber frage ich mich, welche
Schuldigkeit genau Matratzen für uns auf sich nehmen. 

Zuallererst sicher uns
und unser Körpergewicht. Aber auch, und das ist ein sehr schnelles auch, alles
Intime, unseren Körpern entweichende: Blut, Schweiß und Sperma. Matratzen sind
das Auffangbecken unserer Exzesse wie unserer Niederlagen, unsere Körper
zeichnen sich ihnen ein, durch Auflagen und Topper hindurch. Ob aufgebockte
Boxspringvariante oder futonflach: Die Matratze ist die belastbare Zeugin
vieles vor der Welt Verborgenen. Auch der Tränen übrigens jener, die über die anwesenden wie die schmerzlich abwesenden Gefährten weinten.

Diese im toten Winkel der spärlichen The-Barn-Besucher auf dem Bürgersteig
lungernde Matratze liegt so offen da, dass man sie und alles, was sich auf ihr
zugetragen haben mag, getrost ignorieren kann. Und so wird sie ignoriert, wie
Wohnungslose ignoriert werden, die nicht selten diese vielerorts ausgesetzten Matratzen als
temporäre Heimstatt wählen.


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Das Beweisfoto: die greige Matratze, der irgendwer eine Basecap aufgesetzt hat.

Hinter der zitronengelben Fassade
unserer Wohnanlage wird auch so manches ignoriert: Der Aufzug bleibt, wenn er
kaputtgeht, sehr lange kaputt. Die Heizung hat in den oberen Etagen so ihre
Probleme mit dem Heizen, und das Schloss an der Haustür schließt nicht gerne,
mindestens nicht gut. Was immer wieder dazu führt, dass Obdachlose vor oder in
den Kellerräumen ihre Schlafstatt aufschlagen. Wie praktisch, eine Polizeidienststelle
gleich nebenan zu haben, deren zügig eintreffenden Beamte diese Menschen mal
mehr, mal weniger sanft in Richtung einer neuen Ungewissheit aus unserem Haus
eskortieren.

Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn
jemand diese 140 mal 200 Zentimeter große Matratze – in dieser Größe sind sie bei Matratzen
Concorde bereits ab 79,90 zu haben – mit ein, zwei festen Tritten vor The Barn befördern würde, wo der Flat White vier Euro kostet, also etwa ein
Zwanzigstel dieser Matratze. Oder zwei Häuser südwärts vor das Nobelhart & Schmutzig, wo die Kosten
für ein Dinner den Preis von Matratzen locker übertreffen. Vielleicht hat ja
bereits genau das jemand gemacht und irgendjemand anderes, ein Chef, ein Barista,
eine Putzkraft hat es mit ebenso festen Tritten wieder zurückbugsiert, weil: Ist ja nicht unser Problem. Auch auf die Idee, das vom tagelangen
nachweihnachtlichen Nieselregen durchweichte Objekt in eine Parkbucht vor dem
Haus zu verfrachten, die es mit seinen Maßen ja passgenau ausfüllen würde,
scheint niemand gekommen zu sein. Es gäbe sicher noch viele deutlich bessere
Ideen, wie praktikabel mit diesem Objekt verfahren werden könnte, aber auf die
müsste jemand kommen wollen. Für die müsste jemand zuständig sein. Bloß wer
wäre das in diesen sogenannten Zeiten multipler Krisen, in denen jeder mit dem
Monieren dieser Krisen oder dem Herumtrampeln auf jenen, die er zum Sündenbock
auserkoren hat, beschäftigt ist.

Probleme bleiben, viel beklagt und
ungelöst, generell gerne liegen wie die ja längst sinnbildliche Matratze auf
dem Bürgersteig der Friedrichstraße, die nach Wochen des bloßen Verdreckens
nunmehr aufzuplatzen beginnt, um auf den letzten Metern dieses Jahres ihr
Innerstes preiszugeben. Der viel zitierten US-amerikanischen
Broken-Window-Theorie zufolge beginnt der Verfall einer Nachbarschaft mit einem
ersten unbearbeiteten Problem. Ein einziges nicht repariertes Fenster lotst
demnach das Viertel unaufhaltsam Richtung Getto. Der New Yorker Polizeichef
Bill Bratton setzte dem mit ausdrücklicher Unterstützung seines Dienstherren,
des New Yorker Bürgermeisters Rudy Giuliani, eine mit massiv aufgestocktem
Polizeiaufgebot durchgesetzte Zero-Tolerance-Politik entgegen. Der Rest ist das
Luxusproblem, zu dem die Stadt geworden ist. Wehret den Anfängen.

Vielleicht ist es Zeit, eine
Soggy-Matress-Theorie aufzusetzen. Natürlich könnte sie mit Nachhaltigkeit,
Achtsamkeit und Respekt zu tun haben, all jenen zum Bedeutungstod gerittenen
Begriffe, die, ernst gemeint und genommen, gleichwohl der armen Matratze die
würdelose öffentliche Verwesung erspart hätten. Immerhin. Besser gefällt mir
die Soggy-Matress-Theorie, wenn sie sich in den Slogan fassen ließe: Nichts ist
egal. Keine Agentur für Arbeit und kein Lieferando-Fahrrad. Keine Touristin und
keine Reinigungskraft. Keine zugige U-Bahn-Station und von mir aus auch kein
sich mit Narrativen schmückendes Fine-Dining-Venue. Keine Polizeikraft und
keine obdachlose Person. Alles ist Leben. Es lässt sich anschauen und erzählen
und bearbeiten. Und ja, es beginnt und endet, in den meisten Fällen wenigstens,
jeden Morgen und jeden Abend und irgendwann insgesamt auf irgendeiner Matratze.
Und die ist auch nicht egal.