Sachlich richtig | Die Verrumpelung welcher Welt – wo die Gesamtheit anfing

Bücher über Bücher und über das Lesen werden umso häufiger, je weniger Bücher gelesen werden. Doch dieses Buch über Bücher und das Lesen ist nicht nur das eines Enthusiasten, sondern von einem, der wie kein anderer aus dem Leben und dem Lesen schrieb, jedes darin gesammelte Stück, von 1984 bis 2015, zwar nicht zeitlos, aber den Anlass allemal weit überdauernd. Einer, der es verstand, Literatur in ihrem ursprünglichen Sinn zu nehmen, „ein kritisches Medium mit Urteilsvermögen und der Fähigkeit, Bedingungen menschenwürdigen Existierens zu reklamieren, ein visionäres Medium“ – zugleich eine Selbstbeschreibung des Publizisten und Moderators Roger Willemsen, 2016 viel zu früh verstorben. Für Content-Checker: Es geht über Lesen und Buchmarkt, Kanon, Schriftstellerregeln, Beckett oder Chatwin, Gernhardt und Gsella, Hofmannsthal oder Rilke, Kroetz und Fried, Karl Kraus oder Robert Walser, Christine Lavant und Luise Rinser. Das Stück von 1989 zu ihr endet: „Vermutlich werden die künftigen Demagogen gerade von dort kommen. Von wo? Aus dem guten Gewissen der Nation.“

Das Buch hatte ich wegen seines vermeintlich krempeligen Titels Die Verkrempelung der Welt ignoriert. Als ich doch noch drauf aufmerksam wurde, war es schon in der dritten Auflage. Das lässt hoffen. Denn es ist eine Horizonterweiterung! Als Aufhänger geht es um so Dinge wie Herde mit elektronischem Bedienfeld statt Knöpfen, widerspenstige Duscharmaturen, komplikative Kaffeemaschinen, piepende Waschmaschinen, überhaupt Geräte mit eingebautem Verfallsdatum, nervige Assistenzsysteme. Es geht darum, dass der eigentliche Gebrauchszweck hinter Features verschwindet, die einen mehr Zeit kosten, als die Geräte einsparen sollen. Geräte, die äußerlich bauhausfunktional scheinen, aber innerlich so ornamentverschweint sind wie die Dinge des 19. Jahrhunderts. Wir wünschen uns solche, die von Nebensächlichem, Umständen, Wegen, Kraftverschleiß und Risiken entlasten, beim Kauf und der Bedienung mit Lustempfinden belohnen sollen, bekommen aber nur Verkompliziertes und Verschlechtertes, also Frust.

Gabriel Yoran stellt das höchst plastisch dar. Er bleibt nicht bei feuilletonreifen Klagen, sondern dringt tief in den Wirtschaftsteil ein, rekurriert auf die Prozesse dahinter, reflektiert tiefere Zusammenhänge – und liefert eine ebenso jargon- wie moralinfreie Führung durch die um- und innenweltzerstörende Logik des Kapitalismus.

Die Verrummelung der Welt. Der heutige „Overtourism“ trägt dazu bei. Bis zu dem war es ein langer Weg. Seit dem 18. Jahrhundert ein anschwellender Besuchsgang. Hasso Spode, der sich wie niemand sonst in der Tourismusgeschichte auskennt, hat eineGrand Tour d’Horizon“dazu vorgelegt. Für ihn ist das Verhältnis zum Reisen ein „psychohistorisches Echolot“. Das senkt er zunächst tief in die Antike, um von da aus an die jüngste Gegenwart heranzuführen. Gelehrt, nie belehrend, abwägend und anschaulich, reichlich bebildert, geht er Reiseträumen, -räumen und -realitäten nach, dem Wandel der sozialen Träger und Adressaten, der Destinationen, der Verkehrsmittel, der Vorlieben und Verhaltensweisen, dem Reiz des Aufreizenden wie der Reizlosigkeit. Berge und Hügel, Seen und Meere, Urwälder und Dschungel, Ruinen und Restauriertes. Zentriert um Deutschland, stets die weite Welt im Horizont.

Endlich wieder ein Büchlein von Max Goldt. Einiges davon war immerhin schon zu hören, aber es liest sich doch gern wieder. So die unschlagbare Unterscheidung, dass, wenn sie an der Arbeit sind, es sich um Friseurinnen handelt, rauchend vor der Tür aber Frisösen stehen. Max Goldt ist ein Meister des Dramoletts – unschlagbare Dialoge – und der – neugierig mäandernden – kleinen Feuilletonform. Darüber hinaus ist er unersetzlicher Stilberater angesichts zeitgenössischer Macken und Moden, ob unter Achtsamkeitsmenschen in Restaurants oder unter denkfaulen Medienleuten. Einfallsprall und höchst weise liefert er elegante Belehrungen und hintersinnige Unterhaltung in eins.

Wenn Geselligkeit heißt, sich unangestrengt Mühe zu geben, das Gegenüber zu unterhalten und für Unbekanntes bereit zu sein, dann ist Karl-Markus Gauß’ Buch Gedankenspiele über die Geselligkeit selbst gesellig. Es belehrt nicht oder weist gar zurecht, es zeigt sich neugierig und man lernt mit Vergnügen aus seinem Gedankenspiel, sodass man am Ende sicher ist: Geselligkeit ist eine Spielform der Demokratisierung und darin eine soziale Kunstform.

Was menschliche Menschen ausmacht? Lachen, Singen, Tanzen. Darüber kann man je philosophieren. So hier in der Philosophie des Tanzes. Man lernt, das ist ein Mix zwischen strenger Ordnung und Extase. Zwischen Zuhause, Ballsaal und Club. Vorzugsweise geht es um Gender und Körper, Schritt und Fortschritt. Oft eher strenges Menuett wissenschaftlicher Moden als enthusiastinnenfreundlich Pogo. Dazwischen Graziöses oder Grundsätzliches.

Egon Erwin Kisch, der selbst ernannte „Rasende Reporter“, gilt noch vielen als Stammvater des investigativen Journalismus und der Sozialreportage. Sozial engagiert war er – für einen Kommunisten selbstverständlich. Investigativ war er eher zweiter Hand, und nach den heute (noch) geltenden Standards war vieles, was er schrieb, bestenfalls gut erfunden. Indes gut geschrieben. Nehmen wir den Text zum Berliner Sechstagerennen. Da wird als Schlusspointe ein Besucher nebst Adresse ausgerufen, dessen Frau gestorben sei. Den Mann hat’s nie gegeben. Ein paar Jahre später dieselbe Reportage Wort für Wort abermals, lediglich mit veränderten Zeitumständen, und dieselbe tote Frau. Und doch! Seine Berlin-Geschichten wirken noch immer frisch. Vertrackt, dass ein Teil davon Fakt, ein anderer Fake war. Die erfundenen sind am pfiffigsten geschrieben – und die, die man am ehesten glauben möchte. Berliner Bohème versammelt ausgewählte Texte.

Dorthin fährt man allenfalls der Umgebung oder der Documenta wegen. Die märchenhafte Grimmwelt im Herzen Kassels ist aber jederzeit eine Reise wert. Nicht nur in Begleitung von Kindern. Nun umso mehr: der Ausstellung Ich, das Tier wegen. Die widmet sich Tieren im Comic und geht bis zum 12. April 2026. Sie eröffnet einen Bilderkosmos. Hier einstweilen im klug kommentierten Bilderbuch: Vom bösen Wolf bis Donald Duck. Tiere im Comic. Es enthält Porträts der Großen, Walt Disney, Carl Barks, Brian Talbot und vielen anderen. Wer Comics, Tiere oder auch nur das Kind in sich liebt … Ab nach Kassel!

Roger Willemsen. Liegen Sie bequem? Vom Lesen und von Büchern Insa Wilke (Hrsg.) S. Fischer 2025, 448 S., 28 .

Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags) Gabriel Yoran edition suhrkamp, 185 S., 22 €.

Traum Zeit Reise. Eine Geschichte des Tourismus Hasso Spode BeBra 2025, 336 S., 30 €.

Aber? Max Goldt dtv 2025, 160 S., 24 €.

Gedankenspiele über die Geselligkeit Karl-Markus Gauß Droschl 2025, 48 S., 12 €.

Die Philosophie des Tanzens Maximilian Probst u. Ursina Tossi (Hrsg.) Mairisch 2025, 231 S., 24 €.

Egon Erwin Kisch. Berliner Bohème Gabi Wuttke (Hrsg.) BeBra 2025, 144 S., 20 €.

Ich, das Tier. Vom bösen Wolf bis Donald Duck. Tiere im Comic Alexander Braun Panini 2025, 280 S., 39 €.

Erhard Schütz war bis zum Jahr 2011 Professor für Neue Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für den Freitag schreibt er einmal im Monat die Kolumne S achlich richtig , eine konsequent verknappte, höchst subjektive Auswahl von Sachbüchern, die man unbedingt lesen sollte