Sachbuch | Olaf Scholz und Christian Lindner sollten den neuen Piketty lesen

Thomas Pikettys neues Buch, „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“, sollte Pflichtlektüre für alle Politiker sein, die in dieser Krise Verantwortung tragen. Es sind weniger als 1.000 Seiten!

Thomas Piketty hat ein Buch vorgelegt, das zur drängendsten Frage unserer Tage einiges zu sagen hat. Und man würde sich wünschen: Möge die Ampel, mögen Olaf Scholz und Christian Lindner irgendwie dazu kommen, dieses Buch zu lesen, zwischen Meetings, unter dem Kabinettstisch, spätabends, egal – Hauptsache, sie machen sich schlau zur drängendsten Frage unserer Tage: Wie können wir in Zeiten der Knappheit so Politik machen, dass die klaffende Ungleichheit nicht zunimmt, die Ärmeren nicht mit dem Rücken zur Wand stehen, wegen der Inflation und des Energiepreisschocks?

Bisher war das meiste, was der Ampel dazu einfiel, ein Schuss in den bald erkaltenden Ofen: Tankrabatt, Gasumlage, you name it. Weil die Ampel eben kein Bild von Gesellschaft hat, sagen die einen, das Ungleichheit abbildet und versteht. Weil sie (vor allem die FDP, aber auch Grüne und SPD) Interessenspolitik für die Reichen macht und ihr die Armen egal sind, sagen die anderen. Warum aber sollte das neue Buch von Piketty in dieser Gemengelage hilfreich, ja Pflichtlektüre sein? Der französische Wirtschaftswissenschaftler hat sich bis jetzt vor allem dadurch ausgezeichnet, dass er die Erforschung von Ungleichheit für eine breitere Öffentlichkeit als ein respektables ökonomisches Forschungsthema etabliert hat: Sein Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert war ein Bestseller.

Doch, schlimmer Verdacht: Die meisten Leute, die den dicken Wälzer im Regal stehen haben, haben ihn gar nicht bis zum Ende gelesen. Weshalb Piketty selbst sein neues Buch damit beginnt, einen zugewandten Leser zu zitieren: „Das ist interessant, was Sie schreiben, aber ginge es nicht auch kürzer, sodass ich Freunde und meine Familie an Ihren Forschungen teilhaben lassen könnte?“

Thomas Pikettys „Kurze Geschichte der Gleichheit“ ist optimistisch

Deshalb nun eine kurze Geschichte der Gleichheit. Das klingt nach Stephen Hawkings Kurzer Geschichte der Zeit. Und es klingt nicht so, wie manche jetzt vielleicht denken würde: Wie ein großes Lamentieren, dass die Ungleichheit stetig zunähme und alles immer schlimmer würde. Im Gegenteil: Pikettys Buch ist optimistisch, es stimmt hoffnungsvoll. Denn er lässt keinen Zweifel daran: Die Gleichheit ist auf dem Vormarsch! Piketty nennt das eine „langfristige historische Tendenz zu mehr sozialer, ökonomischer und politischer Gleichheit“, zumindest seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Nicht als lineare Bewegung, die sich irgendwie von selbst ergibt: Sondern als Ergebnis von Revolten und Revolutionen, von Aufständen, Krisen und den Kämpfen derer, die für mehr Gleichheit eintraten.

Spannend sind für den unbeleckten Leser die Kapitel, in denen Piketty an einer Globalgeschichte der Gleichheit schreibt: Deren Stationen sind zuvorderst nicht Reformen der Einkommenssteuer, sondern das Ende der Sklaverei oder die Überwindung des Kolonialismus. Denn noch vor der Gleichheit oder Ungleichheit der Menschen innerhalb eines Landes kommt ja die Ungleichheit im planetarischen Maßstab. Interessanterweise, so schreibt Piketty, hätten sich die wohlhabendsten Regionen in China und Japan in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus auf dem gleichen Wohlstandsniveau wie die reichsten Regionen Westeuropas befunden. Ab da aber entwickeln sie sich rasant auseinander: nicht wegen der „westlichen Werte“ und der Aufklärung und der Schlauheit der Europäer, sondern wegen des Kolonialismus und der Klimazerstörung.

Das legt den Grundstock für das explosionsartige Wachstum des europäischen Kapitalismus und – was die Gleichheit betrifft – für einen Abstecher in die Stunde Null: Denn gewiss gab es keine ungleichere Gesellschaft als die Sklavenplantagen der Franzosen, etwa auf Saint-Domingue, das ist Haiti: Sklaven machten hier 90 Prozent der Bevölkerung aus, bekamen aber nur 20 Prozent des Einkommens, und auch das nur in Form von Nahrung und Bekleidung. Am anderen Ende der Skala steht die wohl gleichste aller bisherigen Gesellschaften: das Königreich Schweden im Jahr 1980. Dort eignen sich die obersten zehn Prozent nur mehr 23 Prozent des Gesamteinkommens an – der wohl niedrigste Wert, seit es dazu Daten gibt.

Denn tatsächlich ist es ja so, wie Piketty zeigt: Der lange Marsch zu mehr Gleichheit besteht vor allem darin, dass sich eine Mittelschicht herausbildet, wo vorher nur Herrschende und Mittellose waren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist sie entstanden, weil sie es geschafft hat, dem reichsten einen Prozent (Piketty nennt es „die herrschende Klasse“, weil ihr die Produktionsmittel gehören) etwas wegzunehmen. Der Anteil der unteren Schichten, der Anteil der ärmsten 40 Prozent aber stieg nie an, er blieb über die Zeit beharrlich niedrig.

Krisenzeiten sind Chancen

Und hier sollte dann auch die Ampel wieder zu lesen beginnen: Denn so, wie die Dinge laufen, wird diese Ungleichheit nicht einfach verschwinden. Was im Umkehrschluss heißt: Jeder, der nichts dafür tut, dass sie zurückgedrängt wird, jeder, der nicht bei jeder politischen Maßnahme mitbedenkt, ob sie die Ungleichheit verringert, der lässt zu, dass sie bleibt. Der befördert sie durch sein Nichthandeln.

Was aber würde helfen? Piketty zeigt das genau: Ein Sozialstaat, der wirklich Chancen umverteilt. Und ein progressives Steuersystem. Tatsächlich ist Piketty hier erfrischend schmerzbefreit: Wenn hohe Einkommen nicht hoch besteuert werden, knallhart, bis zu 90 Prozent, wird sich an der Ungleichheit nichts ändern.

Was auch sehr klar wird, wenn man Pikettys Buch liest: Grundlegende Veränderungen der Politik werden in Krisenzeiten möglich, sonst sind die Beharrungs- und Vermeidungskräfte zu stark. Ob von der Ampel noch jemand mitliest?

Eine kurze Geschichte der Gleichheit von Thomas Piketty, Stefan Lorenzer (Übers.), C. H. Beck-Verlag 2022, 264 S., 24 € (Leseprobe)

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