Sachbuch | Nancy Frasers Kapitalismuskritik: Eine Schlange, die sich in den Schwanz beisst
Monster haben in der Gesellschaftstheorie eine lange Tradition. Berühmtestes Beispiel ist wohl Thomas Hobbes, der 1651 das biblische Seeungeheuer Leviathan als Sinnbild für die Allmacht des Staates heranzog. Karl Marx hingegen verglich gerne mal die Kapitalistenklasse mit Vampiren. Der italienische Marxist Antonio Gramsci gab dann um 1930 seine berühmte Beschreibung von Krisenzuständen, in denen „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, die häufig mit einem falsch übersetzten Zitat fortgesetzt wird: „Dies ist die Zeit der Monster“ (während Gramsci lediglich von Krankheitserscheinungen sprach).
Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser zitiert in ihrem Buch Der Allesfresser Gramscis Satz zwar korrekt, hat sonst aber in ihrer Beschreibung davon, wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, eine deutliche Tendenz zur Monsterologie. Dieser „kannibalische Kapitalismus“ wird in ausufernder Bildsprache als „nimmersatter Bestrafer“ von benachteiligten Bevölkerungsgruppen, als im Sozialleben agierender „Care-Verschlinger“ bezeichnet, der mit der „Natur im Rachen“ zugleich noch die Demokratie „ausweidet“ und daher mit dem mythologischen Ouroboros zu vergleichen sei: einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist.
Wer sich aber von diesen Anflügen der Dämonisierung nicht abschrecken lässt, wird schnell merken, dass Frasers eigentliche Argumentation dagegen erfreulich klar gerät. Ihre Hauptthese, dass der Kapitalismus kein bloßes Wirtschaftssystem, sondern vielmehr ein umfassendes Gesellschaftssystem darstelle, ist zwar keineswegs neu (auch Fraser selbst hat sie schon in diversen Büchern vorgetragen). Die systematische Stringenz aber, mit der sie die Verstrickung der kapitalistischen Ökonomie mit deren „verborgenen Stätten“ (Marx) in verschiedensten sozialen Sphären beschreibt, ist durchaus überzeugend.
So bedeute etwa der strukturelle Rassismus dieses Systems, dass es – in kolonialer wie post-/neo-kolonialer Ausprägung – nach zumeist ethnisch codierten Kriterien eine globale Hierarchie von Enteignung und Ausbeutung etabliert, die weltweit die Ärmsten gegen die Armen ausspielt. Ein struktureller Sexismus bestehe daneben darin, dass der Kapitalismus allein der (männlich dominierten) ökonomischen Produktion monetären Wert beimisst, obwohl diese grundlegend von (weiblich bestimmter) sozialer Reproduktion und Care-Tätigkeiten abhängt, die die kapitalistische Wirtschaft sich aneignet, ohne sie (angemessen) zu vergüten.
Dieser kapitalistische Kannibalismus, der sich nur dadurch selbst erhalten kann, dass seine Ökonomie andere Gesellschaftsbereiche ausbeutet, hat historisch betrachtet immer wieder zu Krisen geführt, in denen der Kapitalismus sich aber am Ende doch nie vollständig selbst kannibalisiert, sondern stets in neuer Form stabilisiert hat. Durch die Bedrohungen des Klimawandels scheint heute allerdings für Fraser ein Punkt erreicht, an dem fraglich ist, ob eine solche Stabilisierung abermals gelingen kann. Als Alternative zum Untergang empfiehlt sie einen Sozialismus, der sich von wirtschaftszentrierten „real existierenden“ Modellen abgrenzt: Um dem allesfressenden Kapitalismus beizukommen, müsse die Kluft zwischen kultureller und sozialer sowie ökologischer Linke überwunden werden.
Nancy Fraser liefert eine lesenswerte Aktualisierung klassischer (Anti-)Kapitalismustheorie, die zwar die digitale Ökonomie weitgehend ausspart, ansonsten aber eine beeindruckend breite Phänomenbeschreibung der kapitalistischen Vergangenheit und Gegenwart bietet.
Der Allesfresser Nancy Fraser Andreas Wirthensohn (Übers.), Suhrkamp 2023, 282 S., 20 €