Sabotage | USA, Ukraine, Russland: Die Stärken und Schwächen der drei Nord-Stream-Theorien
Investigativjournalisten sind oft nur die Postboten für Informationen und Erzählungen, die Geheimdienste streuen wollen, um Gegnern zu schaden, um von eigenen Aktivitäten abzulenken oder um verdächtige Zielpersonen auf- oder abzuschrecken. Manche Investigativjournalisten übernehmen solche Erzählungen eins zu eins und glänzen dann im Kreis ihrer Journalisten-Kollegen und beim Publikum mit tollen Exklusivstorys, die besseren unter ihnen aber fangen an, die erhaltenen Informationen auf Richtigkeit und Plausibilität zu prüfen, die Motive der Überbringer zu erforschen und das Material als Ausgangspunkt für weitergehende Recherchen zu nutzen.
Zu welcher Sorte die uns aufgetischten Enthüllungsstorys gehören, zu den Eins-zu-eins-Weitergaben oder zu den Eigenproduktionen, kann man oft nur erahnen oder anhand von Indizien einschätzen. Denn Geheimdienste halten ihre Kontakte zu Journalisten unter der Decke, und die mit Exklusiv-Informationen gefütterten Journalisten können sich stets auf den „Quellenschutz“ berufen, das heißt, sie müssen ihre Informanten nicht preisgeben, nicht in den produzierten Storys, nicht gegenüber Kollegen oder Arbeitgebern, ja nicht einmal vor Gericht.
Nur die großen Medien konnten es sich bislang leisten, eigene Investigativ-Abteilungen zu unterhalten, in denen sich Reporter, Dokumentare und Datenanalysten monatelang mit Terrabyte-großen Datenpaketen oder zimmerfüllenden Aktenbergen herumschlagen durften, abgeschottet vom Rest der Redaktion und in ihren Geheimhaltungs-Gepflogenheiten fast schon so neurotisch und konspirativ handelnd wie echte Geheimdienste.
Drei Trends im Investigativjournalismus
Wegen des enormen Zeitaufwands und der detektivischen Sonderrolle solcher Ressorts zeichneten sich in den vergangenen Jahren zwei symptomatische, aber nicht unproblematische Trends ab: Zum einen entstehen immer häufiger Recherche-Verbünde aus mehreren Leitmedien, etwa aus SWR und Zeit oder aus Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR und bilden wettbewerbsverzerrende Zitierkartelle, die schon kleine Plots zu aufsehenerregenden Superstorys aufblasen können, zum anderen etablierten sich sogenannte Investigativ-Büros oder Recherche-Plattformen außerhalb der traditionellen Medien, wie Correctiv oder Bellingcat, oder es gründen ehedem angestellte Journalisten eigene Ermittlungsfirmen, die unbehelligt von einzelnen Arbeitgeberinteressen und Vorgesetzten-Ängsten ihrer „Wühlarbeit“ nachgehen, um das heikle Material anschließend an die attraktivsten Medienpartner verkaufen zu können. So gibt es etwa das durch Steueroasen-Storys („Panama Papers“) berühmt gewordene „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ) oder das von den ehemaligen SZ-Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier eingerichtete Unternehmen „Paper Trail Media“.
Beide Trends, das Bündeln wie das Outsourcen der Investigativ-Kompetenzen, erleichtern es Whistleblowern und Geheimdiensten, schnell und direkt Kontakt aufzunehmen und die richtigen Adressaten für ihre Informationen und „Narrative“ zu finden. Diese Entwicklung nützt einerseits dem medialen Enthüllungsgewerbe, führt andererseits aber auch zu einer – von den Betroffenen gern bestrittenen – Annäherung der beiden Seiten: Informationsgeber und Informationsnehmer werden sich ähnlicher, denn es kommt, wenn man in diesem Gewerbe Erfolg haben will, über kurz oder lang zu einem Interessenausgleich. Journalisten, die im Sinne der Informanten funktionieren, bekommen mehr und bessere Informationen, Journalisten, die den Informanten misstrauen oder gar gegen deren Interessen handeln, werden nicht mehr exklusiv „beliefert“. Es baut sich ein Geschäftsmodell auf, das auf Gegenseitigkeit und „Vertrauen“ basiert, und das heißt, wer weiterhin Anerkennung finden will, kommt mit seiner Unabhängigkeit irgendwann in die Bredouille. Vor allem die Geheimdienste verschaffen sich so eine verlässliche Abspielbasis für Einflussnahmen: Sie nennen es „anfüttern“, woraus im Lauf der Zeit eine „stabile Verbindung“ entsteht. Nur die Besten unter den Investigativjournalisten können dieses Spannungsverhältnis zwischen Geben und Nehmen so ausbalancieren, dass die nötige Distanz gewahrt bleibt und die journalistische Eigenständigkeit aufrechterhalten werden kann.
Diese lange Vorrede erscheint notwendig, weil wir uns im Folgenden mit jenen „Exklusiv-Storys“ beschäftigen wollen, die, nach einer vier Monate währenden Totschweigephase, seit Anfang Februar in Umlauf gebracht werden, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass diese oder jene Täter die Nord-Stream-Pipelines in die Luft gejagt haben. Drei Groß-Theorien bzw. Geschichten bzw. Narrative sind momentan im Gespräch.
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Die Seymour-Hersh-Theorie

Seymour Hersh
Foto: Imago/CTK Photo
Den Anfang machte der US-Investigativreporter Seymour M. Hersh. Seiner Enthüllungsgeschichte, die er am 8. Februar 2023 auf der Internetplattform substack.com publizierte, haben wir es zu verdanken, dass überhaupt öffentlich über das Thema diskutiert wird. Davor wagte sich kein einziges Leitmedium mit kritischen Fragen, geschweige denn mit eigenen Recherchen aus der Defensive. Beim Publikum entstand so der Eindruck, dass niemand wirklich wissen will, wer den folgenreichen Terroranschlag gegen die Versorgungs-Infrastruktur Europas unternommen hat. Kein Wunder, dass Vermutungen, die Sprengung der Pipelines sei Politikern und Medien zu heiß, schnell die Runde machten.
In diese sarkastisch-resignative Stimmung platzte Hershs sensationelle Geschichte „How America Took Out The North Stream Pipeline“ (Wie Amerika die Nord-Stream-Pipeline ausschaltete) wie eine Bombe. Plötzlich schien klar zu werden, warum alle so betreten geschwiegen und nichts unternommen hatten. Hersh, der seit 50 Jahren, seit seiner Aufdeckung des My-Lai-Massakers im Vietnamkrieg, zu den Ikonen des investigativen Journalismus zählt, beschrieb, mit vielen Details, wer das Attentat plante und wie die Durchführung ablief. Verantwortlich machte er US-Präsident Joe Biden und dessen Sicherheitsberater Jake Sullivan. Letzterer habe im Dezember 2021 eine Task Force aus Militär, CIA, Außen- und Finanzministerium formiert und mit der Planung des Attentats beauftragt. Koordiniert wurde das Vorhaben von einer CIA-Arbeitsgruppe, die Anfang 2022 meldete: Wir sind bereit. Als Indiz für die Stimmigkeit seiner Erzählung verwies Hersh auf die verräterische Aussage US-Präsident Bidens während einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz am 7. Februar 2022: Gefragt, wie die USA die Eröffnung der Nord-Stream-2-Pipelines noch verhindern könnten, obwohl die Genehmigung doch im Verantwortungsbereich der Deutschen läge, antwortete Biden süffisant grinsend: Glauben Sie mir, wir sind dazu in der Lage.
CIA, NATO, Norwegen
Anschließend habe die Arbeitsgruppe der CIA Norwegen als europäischen Partner ausgeguckt, weil sich die Norweger in der Vergangenheit als treueste Verbündete erwiesen hätten und über eine ausgezeichnete Marine verfügen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Norweger, sei der „Handschuh“ gewesen, der zur amerikanischen Hand gepasst habe. Gemeinsam mit dem norwegischen Geheimdienst und der norwegischen Marine habe man dann das Gebiet um Bornholm als geeigneten Tatort ausgewählt. Schweden und Dänemark, in deren Gewässern die Operation stattfinden sollte, wurden eingeweiht, ohne sie jedoch über das eigentliche Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Als Deckung diente der CIA das NATO-Großmanöver „Baltic Operations 22“, das vom 5. bis 17. Juni 2022 in der Ostsee stattfand. Im Rahmen des Manövers hätten Minentaucher die Sprengladungen angebracht. Transportiert wurde alles mit einem norwegischen Minensuchboot.
Nach der Deponierung des C4-Sprengstoffs habe US-Präsident Biden zunächst einige Wochen gezögert, schließlich aber doch den Befehl zur Sprengung gegeben. Ein norwegisches Patrouillenflugzeug vom Typ P8-Poseidon habe eine Sonarboje über der Ostsee abgeworfen, die das Signal zur Fernzündung an die Sprengladungen übermittelte.
All das hat Hersh, wie er schreibt, von einer „Quelle“ erfahren, die an der operativen Planung des Attentats beteiligt war. Diese Quelle müsse er aus Sicherheitsgründen geheim halten. Hersh deutete aber an, dass sie zu jenen Kreisen innerhalb der Geheimdienste zählt, die mit der Operation nicht einverstanden waren. Selbst die CIA ist ja kein monolithischer Block, und von Hersh ist bekannt, dass er gern auf Informationen unzufriedener oder desillusionierter CIA-Mitarbeiter zurückgreift. Der 85-Jährige dürfte über ein größeres Old Boys Network verfügen.
Die Kritik von Oliver Alexander
Nach der Veröffentlichung der Story gab es allerdings nicht die erwartete Aufregung in den Medien, nein, es blieb so mucksmäuschenstill, dass man in den Redaktionen eine Stecknadel hätte fallen hören. Der investigative Journalismus schien vor Staunen perplex zu sein. Staatsterrorismus mit unmittelbarer Beteiligung des US-Präsidenten? Das wäre eine noch größere Nummer als Watergate.
Das Weiße Haus und die CIA erklärten umgehend ihre Unschuld und die Medien waren damit zufrieden. Dann meldete sich der dänische Amateurforscher Oliver Alexander und versuchte, Hershs Erzählung anhand von Seekarten und Flugdaten auseinanderzunehmen. Der eifrige junge Mann schien tatsächlich zu glauben, dass eine Top-Geheimoperation wie die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines mittels öffentlich einsehbarer Daten zurückverfolgbar sei. Alexander steht dem Recherche-Kollektiv Bellingcat nahe, das für seine russlandkritischen Recherchen bekannt ist. Wir werden noch auf ihn zurückkommen.

Lager in Sassnitz auf Rügen mit Röhren für die Pipeline Nord Stream 2 (Archivbild 2019)
Foto: Imago/BildFunkMV
Alexanders Einwände gegen Hersh wurden von vielen Medien, die selbst nicht recherchieren wollten oder konnten, begierig aufgegriffen und eins zu eins übernommen, passten sie doch zur laufenden Diskreditierungskampagne gegenüber dem in der Branche einst hochverehrten Investigativreporter. Plötzlich war der Kollege Hersh ein „abgeglittener Ex-Star“, der sich „auf Abwegen“ befand, „fragwürdige Recherchen“ betrieb und „wenig glaubwürdig“ erschien. War Hershs Geschichte damit erledigt? Offenbar nicht ganz. Denn seine Erzählung enthält eine ganze Reihe von Anhaltspunkten: Er beschreibt, wer sich wann wo getroffen hat, um das Attentat vorzubereiten, er nennt die Beteiligten und schildert die Durchführung. Bisher hat keiner der Erwähnten Klage wegen Verleumdung oder übler Nachrede eingereicht.
Für Hershs Version spricht auch ihre Plausibilität: Die US-Regierung hatte ein klares Motiv. Es gibt unbestreitbare Aussagen, dass man das Projekt Nord Stream mit allen Mitteln verhindern wollte, von Joe Biden über Außenstaatssekretärin Victoria Nuland bis zu Außenminister Anthony Blinken. Und es gibt den Tweet des ehemaligen polnischen Außen- und Verteidigungsministers Radek Sikorski, der kurz nach der Sprengung die Zeile postete: „Thank You, USA“.
Die P8-Poseidon über der Ostsee
Die Nachrichtenagentur Reuters hatte bereits am 7. Oktober gemeldet, dass tatsächlich eine „P8-Poseidon“ am Tag der Sprengung nahe den Tatorten über die Ostsee flog, danach – aus welchen Gründen auch immer – lange über Nordwestpolen kreiste und anschließend zu ihrer Basis in Island zurückkehrte. Nur ist das Flugzeug eben nicht Teil der norwegischen, sondern der US-Marine. Ebenfalls bestätigt wurde, dass an der NATO-Übung „Baltops 22“, die Hersh als ideale Deckung für die Platzierung des Sprengstoffs beschrieb, tatsächlich ein Minensuchboot der norwegischen Marine teilnahm, die Hinnoy. Allerdings gehört das Boot nicht, wie von Hersh behauptet, zur Alta-Klasse.
An solchen Unschärfen in Hershs Erzählung bissen sich die Kritiker naturgemäß fest. Minutiös dröselten sie Flugpläne auf und prüften Schiffspositionen, um die ganze Geschichte zu Fall zu bringen. Und tatsächlich kann Hersh (bislang) nicht nachlegen. In den zahlreichen mit ihm nach der Veröffentlichung der Story geführten Interviews redet er zwar viel, sagt aber nichts, was über die Ursprungsgeschichte hinausgeht. Er mokiert sich über die Erbsenzähler unter seinen Kritikern und nennt ihre Beweisführungen „Bullshit“, zeigt aber keinerlei Interesse an einer ernsthaften Auseinandersetzung. Ist er am Ende doch einer Pseudo-Quelle auf den Leim gegangen? Hat diese Quelle vielleicht eigene Wissenslücken mit fantastischen Erzählungen aufgefüllt, um sie für Hersh interessant genug zu machen?
Gegen Hershs Erzählung spricht vor allem, dass Planung und Durchführung der Sprengung so rational und transparent abgelaufen sein sollen, dass ein einzelner Beteiligter wie seine „Quelle“ über jeden Schritt von A bis Z Bescheid wusste. Geheimdienstoperationen dieser Größenordnung werden aber in der Regel so geplant, dass die beteiligten Gruppen oder Zellen nichts voneinander wissen, damit sie im Ernstfall nicht alles verraten oder gar „auspacken“ können. Hier wussten zu viele zu vieles. Und die Quelle war schier allwissend. Doch möglicherweise hat der Profi Hersh mehrere Quellen zu einer einzigen zusammengezogen, um die Rückverfolgung zu erschweren. Man darf jedenfalls davon ausgehen, dass die CIA und das Weiße Haus nach der Veröffentlichung – aller gespielten Lässigkeit zum Trotz – in heller Aufregung waren und fieberhaft nach einer neutralisierenden Gegenerzählung suchten.
Die Enthüllung der „New York Times“
Diese Gegenerzählung erschien, aufgeteilt in zwei handliche Portionen, exakt einen Monat nach Hershs Story. Zunächst veröffentlichte die New York Times am 7. März ihre Exklusiv-Enthüllung „Intelligence Suggests Pro-Ukrainian Group Sabotaged Pipelines, U.S. Officials Say“ (Geheimdienste vermuten pro-ukrainische Gruppe hinter der Pipeline-Sabotage). Das Wort Enthüllung wäre für die Story der New York Times etwas zu viel der Ehre, denn der Artikel strotzt nur so vor Wenns und Abers und ist derart vage gehalten, dass man eher von einer Verhüllung als von einer Enthüllung reden kann.
Überraschend war nur die brisante Botschaft, dass nicht die USA, wie von Hersh behauptet, sondern eine pro-ukrainische Gruppe hinter den Anschlägen stecken soll. Der interessanteste Teil der New–York–Times-Geschichte war jedoch die Klarstellung der Geheimdienste, dass weder Präsident Wolodymyr Selenskyj noch seine Regierung oder das ukrainische Militär in die Sache verwickelt seien. Man müsse vielmehr davon ausgehen, dass eine private Gruppe das Attentat ausgeführt habe. Unter den Beteiligten könnten allerdings ehemalige Militärangehörige gewesen sein.
Die „Spurensuche“ von ARD und „Zeit“
Einen Tag nach der New York Times folgten ARD, SWR und Zeit mit einer wesentlich präziseren Story, deren „Spurensuche“ ebenfalls in Richtung Ukraine führte. Nicht wenige Beobachter meinten, die deutschen Medien hätten überhastet auf die Veröffentlichung der New York Times reagiert, doch es könnte genauso gut umgekehrt gewesen sein: Die New York Times wollte, in Erwartung der deutschen Veröffentlichung, Selenskyj noch schnell aus der Schusslinie nehmen, da Zeit und ARD die gewünschte Entlastung nicht so eindeutig formulieren würden. Eine direkte Verantwortung der ukrainischen Führung wäre nicht nur ein Desaster für die deutsch-ukrainischen, sondern auch ein massives Problem für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, da weitere Waffenlieferungen dadurch in Frage gestellt wären.
Was haben Zeit und ARD konkret herausgefunden? Eigentlich haben sie gar nichts herausgefunden, denn auch sie stützen sich allein auf Erzählungen aus „Ermittlerkreisen“. Danach soll eine Firma in Polen, die zwei Ukrainern gehört, bei der Chartergesellschaft Mola auf Rügen eine Segeljacht namens „Andromeda“ gemietet haben, mit gefälschten bulgarischen Pässen. Am 6. September 2022 seien dann sechs Personen mit der „Andromeda“ von Rostock aus in See gestochen, und, nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Wiek auf Rügen, Richtung Bornholm weiter gesegelt. Vom 16. bis 18. September seien sie auf der kleinen dänischen Insel Christiansö nördlich von Bornholm gesehen worden, anschließend hätten sie die Yacht „in ungereinigten Zustand“ in Rostock zurückgegeben. Daraus schließen die Ermittler, dass die Crew – ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und eine Ärztin – die Sprengladungen zwischen dem 7. und 16. September deponiert haben müssen. Ihr Verdacht stützt sich dabei vor allem auf Sprengstoffspuren, die auf einem Tisch in der Schiffskabine entdeckt wurden. Kriminaltechniker des Bundeskriminalamtes (BKA) verglichen die Spuren anschließend wochenlang mit jenen Sprengstoffresten, die kurz nach dem Anschlag an den zerstörten Röhren gefunden wurden. Ob die Sprengstoffe identisch sind, ließen die Ermittler gegenüber den Medien offen.
Die ersten Reaktionen auf diese Enthüllung waren – um es milde auszudrücken – blanker Hohn und Spott. Wie und warum soll eine nur 15 Meter lange Segeljacht zwei Tonnen Sprengstoff samt Taucherausrüstung und Personal 170 Seemeilen von Rostock nach Bornholm transportieren, wenn das Ganze viel einfacher von Polen aus durchzuführen wäre, mit einem größeren Schiff, mehr Personal, einer Dekompressionskammer für Tieftaucher und etwas weniger James-Bond-Getue. „Die Olsen-Bande schippert nach Bornholm“ war noch die lustigste Veräppelung dieser Nord-Stream-Theorie.
Das Poroschenko-Gerücht in der „SZ“
Die Süddeutsche Zeitung aber schien Gefallen an ihr zu finden. Kurz hintereinander druckte sie einen Bericht über die US-geführte Kampftaucherausbildung bei der ukrainischen Marine, zu deren Aufgaben auch „Unterwasserzerstörungen“ gehören. Anschließend berichtete sie von Geheimdienst-Gerüchten, welche die Ukraine-Spur erhärten. Schon vor den Explosionen habe es Hinweise der CIA gegeben, „ein paar Ukrainer“ planten ein Attentat auf Nord Stream und würden versuchen, ein Boot in Schweden zu chartern. Und unmittelbar nach den Explosionen habe unter skandinavischen Geheimdienstlern die Version kursiert, es handle sich womöglich um eine private Operation von ehemaligen Militärangehörigen, beauftragt von einem ukrainischen Oligarchen, der sich mit der Aktion ein Geburtstagsgeschenk machen wollte.
Den verklausulierten Hinweis auf Petro Poroschenko, der am 26. September, dem Tag der Sprengung, Geburtstag hatte, könnte man allerdings schwerlich als „private Operation von ein paar Ukrainern“ abtun. Immerhin war Poroschenko zwischen 2014 und 2019 Staatspräsident der Ukraine, davor Außen- und Wirtschaftsminister sowie Direktor der Nationalbank. Er ist beteiligt an Schiffbau- und Rüstungsunternehmen und finanziert eine eigene kleine Privatarmee. Zuletzt hatte er im Jahr 2018 in einem Gastbeitrag für die FAZ heftig gegen das Nord-Stream-Projekt gewettert: Die Pipeline sei eine Tragödie für die Ukraine. Die Enthüllung von ARD und Zeit hätte zwar die USA entlastet, nicht aber die Ukraine.
Nun klingt die Jachterzählung dermaßen absurd, dass tatsächlich etwas dran sein könnte. Warum sollten sich seriöse Ermittler wie das BKA und seriöse Medien wie Zeit und ARD mit einer so haarsträubenden Räuberpistole blamieren wollen? Seltsam ist allerdings, warum die Informationen über die „Andromeda“ und ihre Mieter erst nach der Hersh-Geschichte an die Medien durchgestochen wurde, während vorher eisiges Schweigen herrschte. Aus welchem der fünf beteiligten Ermittler-Länder (Dänemark, Schweden, Niederlande, Deutschland, USA) die „gezielten Indiskretionen“ (der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Hartmann) kamen, bleibt im Dunkeln, doch die erstaunliche Verwechslung der Ostsee-Häfen Wieck und Wiek deutet eher darauf hin, dass es nicht die deutschen Ermittler waren, die plauderten.
Weniger Sprengstoff als gedacht
Für die Segeljacht-Theorie spricht auch, dass das BKA mittlerweile davon ausgeht, dass die Attentäter viel weniger Sprengstoff einsetzen mussten als bislang aufgrund der seismischen Messungen vermutet wurde. Die enormen Druckwellen könnten auch von den Gasblasen verursacht worden sein, die nach dem Zerreißen der Röhren blitzartig ausströmten. Und mit genügend Zeit wäre es geübten Tauchern auch ohne Dekompressionskammer möglich gewesen, die Sprengstoffe an den 80 Meter tief liegenden Pipelines zu platzieren. Da die Jacht fast zwei Wochen lang vor Bornholm herumschipperte, wäre die Tat auch mit einem sechsköpfigen Team zu bewerkstelligen gewesen.
Gegen die ARD/Zeit-Erzählung spricht allerdings der absolut unnötige Umweg über Deutschland. Auch die bislang gültige Geheimdienst-Erzählung, nur ein Staat mit seinen militärischen Mitteln wäre in der Lage, eine solche Operation zu stemmen, spricht gegen die Ausführung durch eine kleine Segel-Crew. Warum das Schiff „in ungereinigtem Zustand“ inklusive Sprengstoffspuren zurückgegeben wurde, ist ebenfalls nicht nachvollziehbar. Überhaupt lassen die „gezielten Indiskretionen“ der Geheimdienst-Ermittler eine Menge Fragen offen: Nichts erfährt man zum Beispiel über die vierte, nicht detonierte Sprengladung. Wer hat sie geborgen und was ist aus ihr zu schließen? Warum geben die Schweden, die als Erste am Tatort waren und den Blindgänger gefunden haben müssen, keinen Einblick in ihre Ermittlungen? Wieso haben die in der Ostsee kreuzenden Aufklärungsschiffe, etwa das Bundeswehr-Flottendienstboot Alster, nichts Auffälliges registriert?
Die Schwächen der Andromeda-Theorie, vor allem jedoch die heikle Mutmaßung, die Ukraine sei für die Sprengungen der Pipelines verantwortlich, riefen schließlich eine dritte Theorie auf den Plan. Nennen wir sie die Alexander-Theorie, weil sie von dem oben erwähnten jungen Amateurforscher Oliver Alexander aufgebracht und erstaunlicherweise von zahlreichen deutschen Medien, etwa von den Springer-Zeitungen, ausführlich nachgebetet wurde. Alexander, der wie Hersh bei substack.com und bei Twitter publiziert, macht nicht die USA und auch nicht die Ukraine für die Sprengungen verantwortlich, sondern Russland. Warum?
War es doch Russland?
Anhand von öffentlichen Schifffahrts-Identifikationsdaten und Satellitenbildern hat Alexander ermittelt, dass in der gleichen Zeit, als die Andromeda-Jacht vor Bornholm schipperte, der Öltanker „Minerva Julie“ ebenfalls dort kreuzte. Und weil eins und eins zwei ergibt, verknüpfte Alexander die beiden Schiffsbewegungen zu einer neuen Großerzählung, wobei ihm die Investigativ-Abteilung der Welt und das Springer-Magazin Business Insider tatkräftig zur Seite standen. Alexanders Theorie geht so: Der Tanker Minerva Julie, der unter griechischer Flagge Öl für Russland transportiert, fuhr, wie schon häufig, von Rotterdam zurück nach St. Petersburg. Vor Bornholm stoppte er plötzlich und kreuzte acht Tage lang in der Nähe der Pipeline-Sprengungen. Warum? Alexander ist überzeugt, die Minerva habe die Ausrüstung und den Sprengstoff für die Pipeline-Aktion zum Tatort gebracht, es fehlte nur noch die Taucher-Crew. Die sei mit der „Andromeda“ aus Rostock gekommen. Die Taucher wären nicht in Rotterdam zugestiegen, weil es im dortigen Hafen vor Überwachungskameras nur so wimmelt. Also trafen sich Jacht und Öltanker zum Stelldichein vor Bornholm. Der Tanker sei dann „als stabilere Plattform fürs Tauchen“ genutzt worden.
Weiter hat Alexander ermittelt, dass der Bruder des Minerva-Eigners etwas mit jenem orthodoxen Kloster in Griechenland zu tun hat, das von Kremlherrscher Wladimir Putin hin und wieder aufgesucht wird. Damit schließt sich der Kreis der Alexander-Theorie: „Alles deutet definitiv eher auf eine russische Operation hin.“ Während Hersh, so Alexander, „kremlfreundliche Argumente“ verbreite, und die ARD/Zeit-Story durch die Ausblendung des Öltankers Minerva einen unsinnigen Ukraine-Plot auftische, passten in der Russland-Erzählung alle Daten perfekt zusammen. Man fragt sich allerdings, wozu der ganze konspirative Aufwand mit zwei Schiffen, wenn die Russen die Durchleitung des Gases einfach so hätten stoppen können.
Im pluralistischen Nirgendwo
Interessant an Alexanders Geschichte ist vor allem, wie bereitwillig professionelle Medien einem Amateurforscher Platz einräumen und wie wenig sie dessen Angaben prüfen, so lange er nur eine allseits gefällige These vertritt. Sowohl die USA- als auch die Ukraine-Theorie wurden härter angefasst als Alexanders Russland-Theorie.
Vordergründig bestätigen alle drei Theorien die psychologische Weisheit, dass jeder genau das herausfindet, was er herausfinden will und was den eigenen – uneingestandenen – Interessen entspricht. Was aber, wenn exakt diese Lesart beabsichtigt ist? Denn mit der Bereitschaft des Publikums, die drei öffentlich verhandelten „Theorien“ als gleichwertig zu betrachten, wäre genau das erreicht, was bezweckt wird: Verwirrung zu stiften und die Wahrheit in einem pluralistischen Nirgendwo verschwinden zu lassen.