„Ruinöser Wettbewerb“ – Jetzt sagt Europa dem Billig-Tsunami aus China den Kampf an

Chinesische Händler wie Shein und Temu können Waren im Wert von unter 150 Euro zollfrei nach Europa schicken. Das stört nicht nur die etablierten Händler, sondern auch Brüssel. Die EU plant Zollschranken und Kontrollen – mit spürbaren Auswirkungen auf die europäischen Kunden.
Die EU-Kommission hat am Mittwoch ihren Plan gegen die Flut von importierter Billigware von Online-Plattformen vorgestellt. Im Visier sind vor allem asiatische Hersteller, die über Online-Marktplätze direkt an Kunden in Europa verschicken. Die neuen Regeln zielen vor allem auf die Marktplätze Temu, Shein und AliExpress, treffen aber auch Versender etwa auf dem Amazon Marktplatz. Die etablierten Händler in Europa freut das, für die Kunden heißt das jedoch wohl: weniger Auswahl und höhere Preise.
Rund 4,6 Milliarden kleine Pakete gelangten im vergangenen Jahr nach Europa. Das waren mehr als zwölf Millionen pro Tag – und doppelt so viele wie 2023. Von einem „Tsunami an Sendungen aus China“ sprach der EU-Kommissar Maroš Šefčovič, als er am Mittwoch in Brüssel einen neuen Plan seiner Behörde vorstellte: die Abschirmung des Kontinents von schädlichen und gefälschten Produkten aus anderen Weltregionen, vor allem aus China.
Bisher können chinesische Produzenten Waren, die weniger als 150 Euro wert sind, zollfrei nach Europa schicken. Der Inhalt der Pakete wird kaum kontrolliert. Die EU geht davon aus, dass die Produkte vielfach europäischen Sicherheitsnormen nicht entsprechen. Zudem bezweifelt sie, dass die geplanten Richtlinien zum ökologischen Design und zur Verpackungsverordnung eingehalten werden.
Die EU-Kommission in Brüssel will die Zoll-Freigrenze nun aufheben. Die Behörde schlägt auch vor, dass Unternehmen aus Drittstaaten, die Sendungen direkt an Käufer in der EU schicken, künftig eine Bearbeitungsgebühr zahlen. Die Höhe steht noch nicht fest. Zudem sollen europäische und nationale Behörden Internet-Marktplätze stärker kontrollieren und zum Beispiel Testkäufe machen.
Brüssel scheint es ernst zu meinen. Am Montag begann die Kommission eine Untersuchung gegen Shein. Die Behörde verdächtigt den chinesischen Händler, europäische Regeln zum Verbraucherschutz zu verletzen und unlautere Geschäftspraktiken zu erlauben. EU-Beamte nennen etwa Schein-Rabatte und falsche Behauptungen, dass ein bestimmtes Produkt knapp sei, um Online-Shopper zum schnellen Kauf zu motivieren.
„Die 150-Euro-Freigrenze im elektronischen Warenverkehr hatte die unkomplizierte Abwicklung von Kleinstbestellungen zum Ziel“, sagt der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. „Leider sehen wir mittlerweile, wie neue Player aus Fernost diese Regelung für maßloses Dumping systematisch missbrauchen.“ Dieser „ruinöse Wettbewerb“ müsse beendet werden.
Zollbehörden sind schon jetzt überlastet
90 Prozent aller kleinen Sendungen verschicken der Kommission zufolge Händler aus China. Viele Produkte, etwa Spielzeug, Kleidung und Elektronik, hält die Behörde für unsicher oder gefälscht. Brüssel will sie künftig von Europa fernhalten.
Zum anderen sollen die Einnahmen, die der Wegfall der 150-Euro-Freigrenze generiert, den nationalen Zollämtern helfen. Die Behörden sollen neue Ausrüstung beschaffen und mehr Personal einstellen, um den anschwellenden Strom der Päckchen besser bewältigen und die Einhaltung europäischer Verbraucherschutzregeln strenger prüfen zu können. „Die Kosten für Kontrollen sind dramatisch gestiegen“, sagt ein EU-Beamter. „Die enorme Menge kleiner Pakete überlastetet viele Zollbehörden.“ Daher sei frisches Geld dringend nötig.
Keine Zoll-Freigrenze mehr und eine neue Bearbeitungsgebühr – es ist gut möglich, dass Online-Händler aus China und anderen Ländern außerhalb Europas die Kosten dafür an ihre Kunden weitergeben. Ähnliche Maßnahmen, etwa die Zölle des amerikanischen Präsidenten Donald Trump in den Jahren 2018 und 2019, hatten laut Ökonomen genau diesen Effekt. Produkte, die von den Abgaben betroffen waren, kosteten plötzlich mehr.
Die EU-Kommission strebe den Schutz europäischer Verbraucher und die Stärkung nationaler Zollämter an, heißt es aus Brüssel. Ob ein Unternehmen Kosten an die Kunden weiterreiche, sei dessen Entscheidung. Die EU habe darauf keinen Einfluss. In anderen Worten: Man fühlt sich nicht zuständig.
Längere Lieferzeiten durch den Wegfall der 150-Euro-Freigrenze werde es aber nicht geben, so die Brüsseler Behörde. Denn die Zoll-Formalitäten könnten schnell digital erledigt werden, ehe die Sendung europäische Grenzen überquere.
Die etablierten europäischen Spieler begrüßen den weitreichenden Ansatz der EU. „In der Diskussion auf europäischer Ebene finden sich gute Ideen, wie Koordination und Stärkung europäischer Zollbehörden sowie der Marktüberwachung durch digitale Vernetzung als auch die konsequentere Durchsetzung vorhandener Gesetze und Schwerpunktkontrollen“, erklärt etwa der E-Commerce-Verband BEVH. Er fordert allerdings darauf zu achten, dass nicht der gesamte Online-Handel durch Bürokratie oder Gebühren belastet werde.
„Illegale und unsichere Produkte haben keinen Platz in unserem Binnenmarkt und müssen bereits vor dem Verkauf gestoppt werden. EU-Kommission und Mitgliedstaaten müssen geltendes Recht rigoros durchsetzen“, sagt auch die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn.
Die E-Commerce-Branche setzt darauf, dass die EU die Plattformen nicht direkt in die Haftung für die darüber verkauften Produkte nimmt. Dann nämlich wäre das in den vergangenen Jahren gewachsene Marktplatz-Modell, das nach dem Muster von Amazon längst auch Spieler wie Mediamarkt.de, Otto.de und Kaufland.de übernommen haben, in Gefahr. Sie möchten, dass es ausreicht, dass die Marktplätze einen Anbieter mit Adresse in der EU benennen können, der die Verantwortung für seine Produkte trägt.
Die positiven Reaktionen sind keine Überraschung – schließlich setzen die chinesischen Direktimporteure Geschäftsmodelle unter Druck, die jahrzehntelang gute Gewinne versprachen. Schon in der Zeit vor dem Internet kauften Anbieter wie Tchibo, Quelle und alle anderen großen Händler preisgünstig Aktionsware in Fernost ein. Sie schlugen allerdings oft deutlich höhere Margen auf als die neue Konkurrenz. Dabei argumentieren sie, dass sie die Ware prüfen und auch die Verantwortung als Inverkehrbringer übernehmen – anders als manch schwer erreichbarer Versender in Fernost.
Die neue Konkurrenz aus dem Netz ist ein Grund, weshalb das Geschäft mit vermeintlichen Schnäppchen selbst bei Aldi und Lidl schwächelt und darauf spezialisierte Anbieter wie Butlers und Tchibo in der Krise sind. In den vergangenen Jahren verlegten sich zudem etliche Online-Shops darauf, Ware über Alibaba zu beziehen. Sie wurden durch das Direktgeschäft im Grunde überflüssig. Andererseits bauen Anbieter wie Amazon und About You das Direktgeschäft nach dem Muster der asiatischen Plattformen aus.
In den USA hat Shein bereits im November 2022 erstmals 50 Prozent Marktanteil bei Online-Mode erreicht. Im ersten Halbjahr 2024 soll der Umsatz weltweit bei 18 Milliarden Dollar gelegen haben. Der Gewinn allerdings ist gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 70 Prozent auf 540 Millionen Dollar gesunken.
Shein reagiert offensiv, Temu hält sich zurück
Während sich Temu öffentlich weitergehend zurückhält, geht Shein in die Offensive. Die Mode-Plattform hat ihren Sitz nach Singapur verlegt und strebt in London an die Börse. Daher will sie nicht länger als China-Händler wahrgenommen werden. Erst vor wenigen Tagen teilte Shein mit, im vergangenen Jahr zwei Millionen Produkttests vorgenommen zu haben, unter anderem zusammen mit dem deutschen TÜV.
Im laufenden Jahr wolle die Plattform weitere 15 Millionen Dollar in den Bereich stecken. Shein betont zudem, das Geschäftsmodell funktioniere nicht wegen niedrigerer Standards oder Zollvorteilen, sondern wegen seiner überlegenen Organisation. Im Detail nachprüfbar ist das nicht.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat eigentlich angekündigt, der Abbau von Bürokratie werde in den kommenden Jahren im Mittelpunkt stehen. Das neue Maßnahmenpaket hingegen steht für den Kurs umfangreicher Regulierung – die Kommission spricht von einem „ganzheitlichen Ansatz“.
Die Zollpflicht auch für Billigwaren erhöht den Kontrollaufwand. Für Händler aus dem Ausland steigt der Aufwand. Kleinere Anbieter ohne Vertretung in Europa, die die Vorgaben nicht umsetzen können, werden vom EU-Markt ausgeschlossen. Und die EU lastet sich und den Mitgliedstaaten weitreichende neue Aufgaben auf – bis hin zu einer geplanten Informationskampagne für Händler in China.
Für die Kunden sinkt zudem die gerade erst aufgekommene neue Auswahl an billigen Produkten. Sie können sich nicht mehr frei entscheiden, ob sie für einen günstigen Preis in Kauf nehmen, Ware zu bestellen, die möglicherweise nicht den EU-Vorgaben entspricht. Zudem kaufen einige Konsumenten bislang bewusst Fälschungen von Markenprodukten oder in der EU nicht zugelassene Nahrungsergänzungsmittel, Anabolika oder Rauschmittel. Ihre Auswahl wird beschnitten.
Der neue US-Präsident Donald Trump hat die Zollbefreiung, die bislang in dem Land sogar für chinesische Pakete im Wert bis zu 800 Dollar galt, handstreichartig abgeschafft. Die US-Post befördert daher zunächst gar keine Pakete aus China mehr, bis die neuen Vorgaben umgesetzt sind.
Künftig dürfte es in den USA deutlich mehr Kontrollen von Paketen geben, denn Trump begründet die Abschaffung des Zollprivilegs, das unter seiner ersten Amtszeit deutlich ausgebaut worden war, mit dem Kampf gegen die oft aus China importierte Droge Fentanyl.
Stefan Beutelsbacher ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet über die Wirtschafts-, Handels- und Klimapolitik der EU. Christoph Kapalschinski ist Wirtschaftsredakteur in Hamburg. Er berichtet über Konsum, Einzelhandel, Landwirtschaft, Start-ups und Risikokapital.
Source: welt.de