Roman von Eva Schmidt: Ich hatte angefangen, rückwärts zu denken

„Ich ließ Kaffee aus der Maschine, gab Milch und Zucker in die Tasse und nahm sie mit auf den Balkon.“ Wer würde sich von einer Geschichte, die so beginnt, ein fesselndes Leseerlebnis erwarten? Es ist die Kunst der Eva Schmidt, stets mehr zu halten, als sie verspricht.

Ihr Untersuchungsfeld ist der Alltag im Hier und Heute, kein historisches Milieu, keine dystopische Zukunft. Weil die Dramen des Alltags meist auf leisen ­Sohlen daherkommen, verzichtet Schmidts Prosa auf Pauken und Trompeten, leistet vielmehr eine lakonische Bestandsaufnahme menschlicher Nöte und Sehnsüchte. Diesen Qualitäten verdankte schon ihr Roman „Ein langes Jahr“, mit dem sich die Vorarlbergerin 2016 nach zwanzig stillen Jahren als Schreibende zurückgemeldet hatte, seinen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.

Streit, dass die Fetzen fliegen

In „Neben Fremden“ erzählt Schmidt die Geschichte der pensionierten Krankenschwester Rosa, die sich mit resignierter Gelassenheit in ihr Restleben dreingefunden zu haben scheint. Der erste Satz lenkt die Aufmerksamkeit nicht zufällig auf ihren Balkon: Dort bekommt die Erzählerin mit, wie bei dem Mann und der Frau unter ihr die Fetzen fliegen. Rosa kennt sie nicht. Doch der überraschende Tod ihres Freundes Fred wirkt als eine Art Katalysator; die Dinge kommen in Bewegung, ohne sich grundstürzend zu ändern, und das Symbol und Vehikel der Veränderung ist der Campingbus, den Fred ihr zwei Wochen vor seinem Tod geschenkt hat.

Eva Schmidt: „Neben Fremden“. Roman.
Eva Schmidt: „Neben Fremden“. Roman.Verlag

In einem gewöhnlichen Roman wäre nun ein Roadtrip angesagt, der die Heldin durch manche schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt und den Ver­lockungen des Daseins wieder zugänglich macht. Hier aber fehlt der Begegnung mit dem Fremden jede Exotik, und die vom Aufbruch ausgelösten Verschiebungen und Erschütterungen ereignen sich im Mikrobereich. Rosa fährt mit ihrem alten Hund bloß zu einem Parkplatz bei einem nahegelegenen Gebirgspass, um der Hitze zu entgehen, nur für ein paar Tage, quasi als Probe für spätere richtige Reisen. Dort lernt sie eine aufdringliche Holländerin kennen, die ihr, ohne zu fragen, ihre junge Hündin – buchstäblich – anhängt. Hunde mag Eva Schmidt offensichtlich, sie bestimmten auch die Handlung in „Ein langes Jahr“.

Heirat aus finanziellen Gründen

Wieder zu Hause schließt Rosa nähere Bekanntschaft mit Mele, der Nachbarin, die ihre Einladung auf einen Kaffee nicht gleich annimmt. „Vielleicht überlegte sie, ob es sich lohnte, mit jemandem in meinem Alter Kaffee zu trinken.“ Als bald darauf der Beziehungskrieg mit Meles Liebhaber eskaliert und Rosa sich einschaltet, erfährt die Nähe eine Belastungsprobe. Leichter tut sich die Pensionistin mit Meles Tochter Paz, einem mit Empathie für Mensch und Tier begabten Mädchen, das zunächst Krankenschwester, dann Tierärztin werden will und sie rundheraus fragt, wie es ist, alt zu sein. „Schade, dass du keine Kinder hast“, lautet Paz’ Resümee, das eine Lebenswunde berührt. Denn Rosa hat einen Sohn, der von ihr nichts wissen will, sie sogar einmal auf offener Straße verleugnete.

Abgesehen von ihren Nachbarinnen und ihren Hunden, hat die Erzählerin keine erquicklichen Beziehungen. Der wohlsituierte Fred, der von seiner Frau getrennt lebte, wollte sie heiraten, „aus finanziellen Gründen“, doch diese Motivation war selbst für die nüchterne Rosa zu unromantisch. Ihre einzige Freundin, eine ehemalige Arbeitskollegin aus der Altenpflege, ist ihr lästig. Und dann ist da ihre Mutter, um die sie sich aus Pflichtgefühl kümmert, obwohl sie von ihr nur Böses erfahren hat. Als Rosa fünf Jahre alt und in den Ferien war, ließ die Mutter ihren kleinen Hund erschießen, weil der Vater ihn gegen ihren Willen angeschafft hatte. Seit Langem begnügt die Mutter sich damit, nichts zu tun und an allem, was Rosa tut, herumzunörgeln, eine lethargische, ewig unzufriedene Menschenfeindin: „Nur als mein Vater starb, lebte sie für ein paar Monate auf.“

Nur das Gestern zählt

Es sind solche Sätze von lapidarer Beiläufigkeit, die Eva Schmidts Buch seine Wucht verleihen. Sie erzählt in diesem ungewöhnlichen Roman über Gewöhn­liches nicht zuletzt eine „Geschichte von Menschen, die glaubten, einander gefunden zu haben, sich selbst aber nach und nach verloren“. Begreiflicherweise ist es der Vater, der in Rosas Erinnerung als schwache Gegenfigur auftaucht, und als Warner: „Wenn du erst einmal anfängst, rückwärts zu denken, hatte mein Vater gesagt, geht’s dem Ende zu. Ich hatte angefangen, rückwärts zu denken.“

Was aber bleibt einer Frau anderes ­übrig, die sich alt fühlt und ihre liebsten Menschen verloren hat? Beim Nach­denken über das Glück erweist sich Eva Schmidt als ebenso realistisch wie ihre Protagonistin. Das Motto zum Buch stammt aus Cormac McCarthys „No Country for Old Men“: „Du glaubst, wenn du morgens aufwachst, dass das Gestern nicht zählt. Dabei zählt nichts anderes.“ Neu anfangen ist etwas für junge Leute. Und doch führt die Autorin ihre Figur am Ende an einen Punkt, von dem aus so etwas wie ein zaghaft freudiger Blick in die Zukunft möglich ist, obwohl sich nichts in Wohlgefallen auflöst.

Immerhin hat Rosa auch „neben Fremden“ das menschliche Miteinander nicht verlernt. Und sogar jener ehemalige Buchhändler, der seit Jahren als Eremit in einer Hütte im Wald wohnt und den Rosa öfter besucht, beschließt eines ­Tages, in die Zivilisation zurückzukehren. Sein Hund hat keinen Namen, weil er keinen braucht – „Neben Fremden“ ist auch ein Buch über die Magie des Namens, der Benennung, der Identifikation mit der Person. Aber in der Stadt, so die Besucherin, werde der Hund einen brauchen und einen Chip und ein Halsband. Er könnte ihn ja August nennen, zur ­Erinnerung an diesen Tag: „August?, wiederholte der Mann, der Gilbert hieß, ein Name, der wirklich nicht zu ihm passte.“

Eva Schmidt: „Neben Fremden“. Roman. Jung und Jung, Salzburg 2025. 182 S., geb., 24,– €.

Source: faz.net