Roman | „Sister Europe“ von Nell Zink: Viel Druck uff dieser Berliner Blase

Voller Widersprüche: Nell Zink seziert in ihrem Roman „Sister Europe“ liebevoll und geistreich das woke Milieu der Hauptstadt Berlin. Die Autorin schafft es dabei, die Ambiguitäten aufklärungswilliger Linker zu skizzieren


Die amerikanische Schriftstellerin Nell Zink

Foto: Francesca Torricelli


Was im Laufe einer Nacht so alles geschehen kann, schildert Sister Europe von Nell Zink. Die in Kalifornien geborene Autorin, die seit 2000 in Deutschland lebt, erzählt in ihrem siebten Roman von einer illustren Gruppe, die sich an einem Abend im Februar 2023 im Umfeld einer Literaturpreisverleihung an einen arabischen Autor zusammenfindet: Demian, ein Kunstkritiker, und sein 15-jähriges Kind Kilian, das im Prozess der Geschlechtsumwandlung als Nicole unterwegs ist. Toto, ein Berliner Bohemien, und sein Internetdate Avianca, die reiche Erbin Livia und Freundin Demians, dazu Radi, homosexueller Erbe der Stifterin des Preises.

Ein Polizist namens Klaus schleicht als Sittenwächter bald der ganzen Gruppe hinterher und liefert im Roman die identitätspolitische Außensicht auf das kleine Grüppchen, mitsamt den dazugehörigen Verschwörungsfantasien. Dabei sind Zinks Figuren eben keine homogene Gruppe, sondern so eigenartig, als stammten sie von unterschiedlichen Planeten. Feinfühlig und mit einer Prise zärtlicher Ironie gezeichnet, erinnern einige an das subkulturelle Milieu des Berlins der Achtziger und Neunziger und sind zugleich so heutig, dass man über Zinks Beobachtungsgabe nur staunen kann, über ihr satirisches Talent, das dennoch nicht abschätzig vorgeht, sondern die Ambiguitäten aufklärungswilliger Linker zu fassen bekommt.

Nicht nur Demian, der Fan des arabischen Preisträgers ist, steht vor unlösbaren Widersprüchen: „Als er die Bücher las, stieß Demian zu seinem Entsetzen auf einen krassen und hartnäckigen Rassismus gegen Schwarze. Ließ sich das entschuldigen? Er entschuldigte es, auf Grundlage der Tatsache, dass es einem antischwarzen Rassisten schwerfallen würde, in Norwegen allzu viel Schaden anzurichten (…) War es herablassend, seine eigenen ethischen Maßstäbe zu senken, weil der Mann ein Genie war, oder war es eurozentrisch, sie nicht zu senken, und was war schlimmer?“

Sister Europe (Rowohlt, 272 S., 24 €) stellt diese und andere beißende Fragen und bleibt dabei gelassen, komisch, temporeich. Bis zum offenen Ende.