Richard Rorty: Mit Hoffnung geht es besser

Er fehlt, und in diesen Tagen spürt man es schmerzlich. Wie hätte der amerikanische Philosoph Richard Rorty auf unsere zerrissene Welt geblickt? Was hätte er über Putins Angriffskrieg gesagt? Über China? Über Amerikas Demokratie, der er schon 1997 prophezeite, sie werde eines Tages einen strongman ins Amt bringen, eine rechte Führerfigur?

Der 2007 verstorbene Rorty war eine Stimme, die in den USA ebenso wie auf dem europäischen Kontinent Gehör fand. Er war berühmt für seinen Scharfsinn und die makellose Eleganz seiner wissenschaftlichen Prosa. Doch das „antikommunistische Baby in roten Windeln“ (so Rorty über sich selbst) war auch berüchtigt. In den Augen seiner Kritiker beging er einen unverzeihlichen Verrat, als er forderte, die Suche nach Wahrheit aufzugeben und sie durch die pragmatische Suche nach nützlichen Hoffnungen zu ersetzen. In der Tat, das war Rortys Programm, dicht ausbuchstabiert in den Vorlesungen, die er im Sommer 1996 gehalten hat und die nun unter dem Titel Pragmatismus als Antiautoritarismus auf Deutsch erschienen sind.

Welcher Teufel hat Rorty geritten, als er sich entschloss, die Frage nach der Wahrheit links liegen zu lassen und die großen philosophischen Vaterfiguren abzuservieren? Die Begründung geht so: Es war großartig, dass die Aufklärer sämtliche theologischen Autoritäten vom Thron stießen. Doch es war dumm von ihnen, dass sie anschließend sofort eine neue Autorität installierten, nämlich den Glauben an die unbedingte wissenschaftliche Wahrheit. Von einem obskuren masochistischen Verlangen getrieben, gleichsam als Akt der Selbstbestrafung, ersetzten die Aufklärer die „theologische Idee durch die Idee der Erlösung von der Unwissenheit“, und fortan sollten die Menschen nicht mehr vor Gott, sondern vor der wissenschaftlichen Wahrheit zu Kreuze kriechen. Doch so eine Wahrheit gibt es für Rorty nicht. Für ihn sind die Wissenschaften kein Spiegel der Natur, denn was wir „Natur“ nennen, das existiere nur im Kontext unserer Darstellungsweisen und Repräsentationen: „Es gibt weder einen Gottesstandpunkt noch einen Grund des Seins, noch ein Sosein der Welt, das davon unabhängig wäre, wie es beschrieben wird.“ Bevor Isaac Newton die Bühne betrat, waren die Newtonschen Gesetze weder wahr noch falsch, und das Einzige, was man über die Dinge sagen könne, sei der Satz, dass sie zu anderen Dingen in Beziehung stünden. Vergesst also die Wahrheit, es gibt sie nicht. Wo es nicht juckt, muss man sich nicht kratzen.

Ein Gott der Macht ist eine Autorität; ein Gott der Liebe ist ein Freund.

Richard Rorty

Für Rorty reproduzierten die Aufklärer den Makel des abendländischen Wahrheitsbegriffs, jenes autoritäre und ausgrenzende Moment, von dem auch die jüdisch-christliche Tradition nicht frei sei. Bis heute lasse die Jagd nach dem Unbedingten und die Suche nach Gewissheit die Philosophie erstarren und entfremde sie dem Leben. Wie gelähmt sei ihre Fantasie, kaum jemand mache noch Vorschläge für eine bessere, eine säkulare Gesellschaft. Nichts gegen Religionsstifter oder metaphysische Genies wie Dostojewski, sie waren für Rorty Giganten der Einbildungskraft. Doch ihre erhabenen Wahrheiten hätten ihren Ort im Privaten, wo sie uns Sterbliche mit dem kosmischen Zufall des Daseins versöhnen.

In seinem Buch Radikaler Universalismus hat der Philosoph Omri Boehm Rorty vorgeworfen, seine Absage an Wahrheit spiele jenen in die Karten, die ihr Heil im moralischen Relativismus suchten, angefangen von völkischen Rechten bis zu postkolonialen Linken (ZEIT Nr. 37/22). Da ist was dran. Doch liest man nun seine Vorlesungen, dann wird klar, dass Rorty sich als „loyaler Abendländer“ verstand, der das jüdisch-christliche Brüderlichkeitsideal verwirklicht sehen wollte, und zwar nicht nur im Westen, sondern weltweit. Er schwärmte vom romantischen Polytheismus toleranter Lebensformen, in denen der Monotheismus sein Gewaltmoment verliert; er hoffte auf eine reiche und vielgestaltige, den „ganzen Planeten umfassende Gemeinschaft“ mit „maximal gütigen Menschen“, mit neuen demokratischen Institutionen und Gebräuchen, in denen der Gegensatz von Gefühl und Moral verschwindet und der Wille selbst „heilig“ wird. Dieses Ideal, das war sein entscheidender Punkt, könne der Westen nach all seinen kolonialen Verbrechen nur empfehlen und vorleben, aber nicht erzwingen, und wer glaube, man müsse dafür transkulturelle sprachliche Geltungsansprüche in Anspruch nehmen, der liege falsch: Es gebe keine wechselseitig unverständlichen Sprachen; die menschlichen Tiere seien sich ähnlicher, als sie glaubten.

In der Welt von heute liest man Rortys Aussichten auf die Zukunft mit einer gewissen Melancholie. Das gilt erst recht für sein, nun ja: Gottvertrauen in eine progressive kulturelle Evolution, die parallel zur biologischen verlaufe und die es irgendwann möglich mache, dass die ganze Welt in den Genuss demokratischer Freiheit gelangt. Doch gewiss ist nur die Ungewissheit: „Vielleicht wird der Tag kommen, an dem sich die von der Sonne beschienenen demokratischen Perspektiven (…) nicht mehr verfinstern, sobald wir uns ihnen nähern. Aber vielleicht wird das niemals geschehen.“

Richard Rorty: Pragmatismus als Antiautoritarismus. Herausgegeben von Eduardo Mendieta; aus dem Englischen von Joachim Schulte; Suhrkamp, Berlin 2023; 454 S., 34,– €, als E-Book 29,99 €