Reportage | Zu Besuch in Finnland: Bäume. Sauna. Artillerie

Die glücklichste Nation auf Erden wird jetzt also NATO-Mitglied. Was das bei 1.340 Kilometern Grenze zu Russland wohl verändert? Eine Reise durch Finnland

Schönheit ist kein einfaches Kriterium, aber für Ari Yrjölä erstreckt sich vor der Terrasse mit den pollenstaubigen Möbeln eine Sehnsuchtslandschaft. Ein Glücksgefühl, Schönheit im Frühsommer, Yrjölä mag sich nicht setzen, schaut einen Moment: Der tiefe See ist dicht umstanden von Wald in den grünsten Farben des Jahres, am tiefblauen Himmel hängt genau eine Wolke. Von Felsen und Kiefern gerahmt, liegt da der Päijänne, eine halbe Stunde nördlich von Lahti. Er zieht sich nach Norden, Inseln sprenkeln ihn, schon im 19. Jahrhundert kamen Sommerfrischler. Das Wasser ist so gut, dass es zum Trinken nach Helsinki abgeführt wird, erzählt jeder, den man hier so trifft, mit fühlbarem Stolz.

Landschaft und Glück aber sind auch Arbeit, Yrjölä, geboren 1965, erzählt von der kleinen Hütte, die hier einmal stand, Schutz für die, die den Wald gegen Feuer und Wilderer bewachten. In den 1960er Jahren vermietete seine Familie die Hütte an deutsche Urlauber, die mit dem Kleinbus ankamen, Yrjölä erinnert sich an das deutsche Wort. Und daran, dass der Kleinbus jedes Mal bis unters Dach mit Lebensmitteln vollgepackt war.

Ari Yrjölä ist ein gewitzter Erzähler, hat ein Faible für bunt gemusterte Hemden, eine Gürtelschnalle, auf der das Wort „Tiger“ steht. Den Bauernhof der Familie führt er in der 16. Generation, was in Finnland recht selten ist. In den Wald von Asikkala hat er ein Touristen-Resort gebaut, die Haferflocken auf dem Frühstücksbuffet kommen von seinen Feldern. Yrjölä hat 300 Hektar Land, finanziert wird die Landwirtschaft eher von den Touristen.

Seine Geschichte vom Kleinbus nimmt gern noch einen Bonuspunkt finnischer Erzählungen mit: unterschätzt zu werden. Denn wer hätte gedacht – er schmunzelt –, dass es in Finnland Ende der 1960er Supermärkte gab? Er erzählt das auch, weil vor seinem inneren Auge offensichtlich vorüberzieht, wie rasant die Entwicklung des Landes allein in seiner Lebensspanne war – ein anderer See bei Lahti war einmal der dreckigste des ganzen Landes, 2021 wurde Lahti zur European Green Capital ausgerufen. Dann sagt Yrjölä noch etwas, das wohl von der Ahnungslosigkeit der deutschen Kleinbus-Urlauber ausgeht, in jedem Fall aber bis in die Gegenwart reicht: „Finnland war immer Teil des Westens. Aber wir haben eben auch die Grenze mit Russland.“

Den Besuch bei Ari Yrjölä, in Lahti und im Wald von Asikkala kurz vor der Sommersonnenwende hat eine PR-Agentur organisiert, die dem finnischen Staat gehört. Die Reise hat die Überschrift „Mökki Life and Love of Nature“ als Schlüssel zum Glück der Finnen. Das Land hat im Frühjahr wieder die Auszeichnung bekommen, das glücklichste der Welt zu sein. In der PR-Fahrt steckt viel davon, wie sich Finnen gerne selbst sehen.

Sie soll über Reisejournalisten touristische Möglichkeiten des Glücks anpreisen: ein stiller Naturpark außerhalb von Helsinki, entzückende Eiszeit-Felsrücken, Frühsommer zwischen Kiefernwäldern, Morgennebel über Seen, Sonnenschein über den Schären von Espoo. Auf der berückend schönen Insel Pentala erzählt ein kleines Hausmuseum von den vielen Jahren, in denen Gurli Nyholm hier allein lebte, fischte, Dinge im Garten anbaute und in einsamen Stunden mit Menschen auf dem Festland telefonierte. Es gibt vorzüglich gegrillten Hecht, immer wieder Sauna und zum Abschluss einen Besuch in einer preisgekrönten Whisky-Destillerie. Schnell macht sich ein tolles Bullerbü-Gefühl breit.

Pessimistischer Pragmatismus

Das hält sich auch in Yrjöläs Resort: An diesem Juni-Wochenende sind 160 Gäste auf den felsigen Hügeln zu Gast, einer kam sogar mit dem Helikopter. Yrjölä macht eine Bewegung, richtig geheuer ist ihm das nicht. Die größte Überraschung: die Stille. Die Gäste schlafen in geräumigen Holzhäusern, zwischen denen es immer genug Wald und Fels gibt, sodass man eigentlich niemanden sieht.

Tatsächlich ist die Glücksplakette nicht streng wissenschaftlich, vor ein paar Jahren raunte ein Kabinettsmitglied, das mit ihr auf einer internationalen Konferenz vorgestellt wurde, dass es dann aber nicht die anderen Länder kennenlernen wolle. Und irgendwie spielt auch die Sache mit der Grenze hinein: Gurli Nyholm konnte auf die sowjetische Marinestation bei Porkkala schauen, einem breiten Streifen Ostseeküste, den die Rote Armee eigentlich bis 1997 behalten wollte, aber schon 1956 räumte. Die Soldaten bauten viele Holzhäuser ab, verfeuerten sie nicht selten. Zum Glück kann man also vielleicht über einen Trampelpfad zwischen hellgrünen Blaubeerbüschen gelangen, vielleicht hat viel aber auch mit einer Einstellung zu tun, die Minna Ålander von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin beschreibt: „Wir haben eine Art pessimistischen Pragmatismus entwickelt.“

Die Haltung zahlte sich aus, weil die Finnen spätestens seit dem Winterkrieg 1939/40 davon ausgingen, dass das Land weitgehend unabhängig und vorbereitet sein muss. Und dafür eine strategisch klar ausgerichtete Armee braucht. Deren Finanzierung stand selbst in den Krisenjahren der 1990er und nach der Bankenkrise 2008 nicht zur Disposition. Ålander zählt verteidigungspolitische Eckdaten auf, Übungen gegen Grenzverletzungen und Überfälle: „Die vorgestellte Aggression kam immer aus dem Osten.“

Dort zieht sich also die 1.340 Kilometer lange Grenze. Die kann Finnland nicht befestigen. Also hat die Armee schon länger Europas stärkste Artillerie. Pessimistischer Pragmatismus bedeutete wohl, dass man für die Blütenträume des Pazifismus zu wenig weltentrückt war. Oder eben zu nah an Russland. Wer sich Finnland mit reisejournalistischen Schablonen wie Erwartungen an dramatische Natur und pflaumenweiche Hygge-Ausstattung nähert, sieht den Sockel nicht, auf dem zumindest all die nachhaltig durchdachten Unterkünfte stehen, von denen aus man auf viel Landschaft blickt.

Zum Sockel gehört mindestens auch das vielgerühmte Bildungssystem: Vielleicht kommen deshalb so wenige Menschen auf den zynischen Gedanken, dem Krieg gegen die Ukraine unbedingt entgegenhalten zu wollen, dass die USA ja aber auch Libyen bombardiert hätten. Oder dass russische Sicherheitsbedenken ja legitim seien. Linke, die gegen Covid-Maßnahmen argumentieren, weil sie nur antistaatliche Denkformen zur Hand haben, halten sich entweder bedeckt, oder es gibt sie einfach nicht. Im Medienunterricht lernen Schüler*innen früh, digitale Quellen zu hinterfragen, Fake News rauszufiltern. Wohl deshalb halten wenige Erzeugnisse aus Springer-ähnlichen Verlagen für Journalismus.

Ålander zählt zudem auf: sicherheitsstrategische Vorbereitungen, kein Neubau ohne Bunkerplätze für Bewohner und, ganz wichtig, keine einseitige Abhängigkeit von Energielieferungen. Als die Russen im April den Gashahn zudrehten, hatte Finnland seinen Verbrauch von russischem Gas schon auf fünf Prozent gesenkt. Der durchschnittliche Besucher am Päijänne scheint von diesen Dingen deutlich mehr zu verstehen als zum Beispiel Friedrich Merz – wenn man sich an einer Warteschlange zum Kaffee bei der Schleuse in Vääksy darüber unterhält, trennen alle sauber zwischen Wärmeproduktion durch Gas und Stromerzeugung mit Atomreaktoren.

Tatsächlich tasteten weder sozialdemokratische noch konservative Regierungen die sicherheitspolitischen Grundsätze an. Wenn man aus Deutschland anreist, kann man eine geringere Selbstzufriedenheit erkennen und die notwendige Flexibilität einer kleineren Gesellschaft. Der vielbeschäftigte Landwirt und Tourismus-Unternehmer Ari Yrjölä geht als Reservist zu jährlichen Übungen und sagt dazu auf der Terrasse einen tollen Satz: „Wir sind mit Sowjets und Russen immer umgegangen, aber wir haben ihnen nie vertraut.“

Das heißt, dass auch Einstellungen, die von außen als identitär angenommen werden, fast über Nacht abgeräumt werden können: Nachdem höchstens die konservative Partei Kokoomus in den vergangenen drei Jahrzehnten die Frage nach der NATO-Mitgliedschaft aufkochte, beschloss die linksliberale Regierung Sanna Marins den Beitritt: Vergangenes Jahr wollte gerade ein Fünftel der Finn*innen dem Militärbündnis beitreten, Ende Februar 2022 dann über 85 Prozent. Wenn man sich in Helsinki oder an den Seen bei Lahti umhört, ob die Aufgabe der Neutralität Entscheidendes verändere, ist die Antwort fast immer: Nun, Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Dinge verändert, wir ziehen daraus Konsequenzen.

Identifikation mit dem Staat

Da wir jetzt schon ein gehöriges Stück von Saunaseligkeit und Kiefernwald-Glucksen weggerückt sind, können wir noch einer Fährte nachgehen, die womöglich einen Weg der Finnen ins Glück illustriert. Identifikation mit dem Staat nämlich. So kann man das entziffern, wenn 80 Prozent der Finnen ihrer Steuerverwaltung antworten, dass sie ihre Steuern „gern“ bezahlen, noch mehr, 96 Prozent, sie als „wichtige Bürgerpflicht“ verstehen. Alle Steuerunterlagen sind transparent, Ari Yrjölä kann nachschauen, wie viel der Nachbar verdient. Auch wenn Finnland in den vergangenen 15 Jahren eine recht eindeutige Entwicklung durchgemacht hat, Unternehmenssteuern auf ein übliches europäisches Maß senkte, Einkommen weiter hoch besteuert, gaben in derselben Erhebung 98 Prozent der Finnen an, dass Steuern wichtig seien, um den Wohlfahrtsstaat zu erhalten.

An dem aber zeigt sich, dass Dinge nicht mehr eindeutig sind: Der Wohlfahrtsstaat ist nicht mehr unumstritten. Anu Kantola ist Professorin an der Universität in Helsinki, sie schlägt ein Café in einem historischen Industriegebiet vor, das zu einem ziemlich angesagten Wohnviertel im Grünen geworden ist.

Der Wodka ist anderswo als hinter dem Übergang nach Russland zu beschaffen

Foto: IMAGO/ agefotostock

Kantola hat die Stimmung im einkommensstärksten Prozent der Finnen untersucht. Und herausgefunden, dass ein globaler Trend in Finnland verlängert wird: Menschen, die zu dem einen Prozent Bestverdiener der Gesellschaft zählen, Unternehmensvorstände, Firmenbesitzer, politisch einflussreiche Gruppen blicken mit wachsender Verachtung auf Menschen, die auf soziale Leistungen angewiesen sind. Sie zeigen am häufigsten auf die ärmsten Klassen, besonders auf die, die Leistungen des Wohlfahrtsstaates oder Arbeitslosenhilfe beziehen. Deuten an, dass die sich lieber zu Unrecht alimentieren ließen, als Arbeit zu suchen. „Das System des Wohfahrtsstaates“, schreibt Kantola in der Studie, unterstütze der Meinung der reichsten Finnen nach eine falsche Einstellung: „Zu generöse soziale Sicherheit erzeugt Passivität und ersetzt Arbeit.“ Die Einkommenseliten identifizieren sich nicht mehr mit dem finnischen Nachkriegsmodell, das von einer Solidargemeinschaft ausging. Sie fordern höhere Einkommen und niedrigere Steuersätze.

Und nun? Marodieren Impfgegner durch die Straßen, steigt der Ärger über Spritpreise von mehr als 2,70 Euro? Liegt der Lackmustest für gute Regierungsarbeit darin, wie oft Finnen billig an den Ballermann können? Kantola erzählt von den relativ geringen Einkommen, dem Umstand, dass Wohnungen klein sind, immer teurer werden. Kompensiert würde das und auch das Empfinden von sozialer Spreizung noch durch kostenlose Gesundheitsversorgung, Bildung, den subventionierten Kulturbetrieb: „Von der Geburt bis zum Hochschulabschluss hat man doch immer ein positives Bild vom Staat.“ Aber 2023 sind Wahlen, Ministerpräsidentin Sanna Marin hat insbesondere Pflegeberufen, Krankenschwestern, Sozialarbeitern höhere Löhne, mehr Prestige versprochen. Kantola neigt ihren Kopf etwas – da müsse sie langsam liefern.

Zurück zum PR-Programm, zu Wald und See. Der Ofen einer Rauchsauna ist angeheizt, noch werfen sich wenige Mücken über die Besucher. Genau genommen besteht die Journalistenreise aus einer Art Dreifaltigkeit des finnischen Glücks: baumbestandene Distanz zu Mitmenschen, Schwitzhäuser an Gewässern, Alkohol. Zumindest das kann als Rezept auch anderswo funktionieren.

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