Reisners Blick aufwärts die Front: „Trumps Ukraine-Gesandter stärkt Putins Erzählung“

Die Forderung der USA nach Neuwahlen in der Ukraine stärke Russlands Position, sagt Oberst Markus Reisner. Das sei besonders gefährlich, weil Kiew bei der Flugabwehr immens auf die Hilfen aus Washington angewiesen sei. An vielen Stellen gerate die Ukraine weiter in die Defensive.

ntv.de: Der Ukraine-Sondergesandte von US-Präsident Donald Trump, Keith Kellogg, fordert Neuwahlen in der Ukraine. Ist die Durchführung von geordneten Wahlen in Kriegszeiten überhaupt möglich?

Markus Reisner: Auch Russlands Präsident Wladimir Putin wiederholt immer wieder die Forderung, dass der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj abgelöst werden müsste, weil der aus Putins Sicht nicht der legitime Führer dieses Landes ist. Das ist ein klarer Versuch der Russen, Selenskyj zu diskreditieren. Das bekommt durch die Forderung aus den USA Rückenwind. Trumps Ukraine-Gesandter stärkt mit seiner Ansage Putins Erzählung. Das ist im Zusammenhang zu sehen mit Trumps Behauptung, Selenskyj habe angeblich eine Teilschuld am Krieg, weil die Ukraine sich gegen die russische Invasion gewehrt hat. Klar ist aber: Selenskyj hat die Wahlen wegen des Kriegszustands nach hinten verschoben. Es ist in Zeiten des Krieges schwierig, eine Wahl durchzuführen.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Warum?

Fast ausnahmslos in allen Ländern, vor allem in den demokratischen, sehen die Verfassungen dafür gewisse Regeln vor. Demokratische Wahlen können nur durchgeführt werden, wenn nicht mehr der Schockzustand eines Kriegs herrscht und es wieder geordnete Zustände gibt. Menschen in den Kriegsgebieten sind kaum in der Lage, ihre Stimme abzugeben. Es kann auch kaum überwacht werden, ob das in einer Art und Weise passiert, dass es dem demokratischen System gerecht wird. Ein Problem sind auch die Geflüchteten, die außer Landes sind. Wo sind die registriert? Wie könnten die wählen? Das macht es so schwierig.

Laut NATO-Chef Mark Rutte muss Russland starke Verluste hinnehmen, um weiter vorzurücken. Rutte sagt, 1000 bis 1500 Russen würden pro Tag sterben oder schwer verwundet werden. „Die Ukraine verliert den Krieg nicht“, lautet deshalb seine Einschätzung. Würden Sie dem zustimmen?

Nein. Die Ukraine hat ein Personalproblem. Ukrainische Offizielle und Blogger berichten, dass die Verbände an der Front zum Teil stark ausgedünnt sind, sie haben nur mehr Stärken von circa 40 bis 45 Prozent. Das heißt: Von 100 Mann in einer Kompanie sind nur 40 bis 45 einsatzbereit. Das rächt sich an der langen Frontlinie, weil die Ukrainer von Stützpunkt zu Stützpunkt große Distanzen haben. Durch diese Lücken kommen die Russen durch. Es ist irrelevant, wie hoch die Verluste auf russischer Seite sind, solange sie neue Kräfte nachschieben. Die Russen sind in der Lage, circa 30.000 bis 35.000 Mann pro Monat zu rekrutieren. Das ist das Problem des Abnutzungskriegs: Man bekommt den Eindruck, da passiert nicht viel an der Front, aber in Wirklichkeit läuft der Ukraine die Zeit davon. Falls die USA ihre militärischen Hilfen einstellen sollten und die Europäer dann nicht in der Lage sind, das zu kompensieren, wäre der weitere Kampf der Ukraine enorm gefährdet. Uns ist der Ernst der Lage nicht bewusst.

Also kann auch ein Abnutzungskrieg schnell kippen?

Ja, da gibt es historisch genug Beispiele. Denken Sie etwa an den Zweiten Weltkrieg, an die Situation im Deutschen Reich. Daran zeigt sich: Wenn durch die Bombardierungen der militärisch-industrielle Komplex zum Erliegen kommt, dann ist es irrelevant, welche Erfolge es an der Front gibt, weil das Land einfach zusammenbricht. Und die Russen zerstören durch ihre massiven Luftangriffe tagtäglich Ziele in der Ukraine. Noch hält die Ukraine dagegen. Der Januar dieses Jahres war der erste Monat seit Kriegsbeginn, in dem es auch fast täglich Angriffe von ukrainischen Drohnen auf russische Ziele in Russland gab – etwa zuletzt auf die Städte Rostow am Don, Astrachan oder Wolgograd.

Was braucht die Ukraine, um weiter dagegenzuhalten?

Die Ukraine braucht Fliegerabwehrsysteme. Allein im Januar hat die Ukraine 1600 Shahed-Drohnen, circa 650 Aufklärungs- und Angriffsdrohnen und knapp 50 Marschflugkörper der Russen abgeschossen. Das zeigt den hohen Bedarf an Fliegerabwehr. US-Transportmaschinen haben deshalb kürzlich mehr als 90 Patriot-Raketen aus Israel in die Ukraine geflogen. Die USA stehen immer noch an erster Stelle, was militärische Hilfslieferungen betrifft. Falls das ausfallen sollte, müssten das andere übernehmen. Die Ukraine kann das nur teilweise, weil ihr militärisch-industrieller Komplex beschädigt ist. Die NATO bzw. die Europäische Union müsste also mehr tun als jetzt. Das würde viel Geld kosten, weil der militärisch-industrielle Komplex in Europa privatwirtschaftlich organisiert ist. In Russland zum Beispiel kostet die Produktion einer Artilleriegranate vom Kaliber 152 Millimeter zwischen 800 und 1000 Euro – in Europa das 155 Millimieter Gegenstück aber bereits 8000 Euro. Das war schon mal billiger. Der Preis ist aber gestiegen, weil Angebot und Nachfrage vorherrschend sind.

Wie ist die Situation in der heftig umkämpften Stadt Pokrowsk?

Im Donbass schafft die Ukraine es noch, sich langsam und geordnet zurückzuziehen. Dabei kann sie groß angelegte Einkesselungen und herbe Verluste vermeiden. Manche Stellen verteidigt sie aber noch verbissen. Der Hotspot der Kämpfe ist noch immer Pokrowsk, die Stadt ist im Süden und Osten von russischen Truppen umgangen. Dadurch werden wichtige Versorgungslinien unterbrochen, zum Beispiel eine Eisenbahnlinie. Diese ist für die Ukraine aus wirtschaftlicher Sicht bedeutend, weil darüber die Kohle aus dem Donbass Richtung Westen transportiert worden ist, vor allem Richtung Dnipro. Die Ukraine versucht mit Gegenangriffen, bei denen sie zum Teil mit Leopard 1 ausgestattete Eliteeinheiten einsetzen, die Eisenbahnlinie wieder zurückzugewinnen. Pokrowsk steht im Feuer der russischen Artillerie und wird von Kamikaze-Drohnen angegriffen, die in den Straßenzügen patrouillieren und alle Ziele angreifen, die sie erkennen können. Im Januar ist es den Russen gelungen, bei Pokrowsk circa 160 Quadratkilometer in Besitz zu nehmen. Die russischen Truppen gehen aber vorsichtig vor. Sie wollen die Stadt möglichst unzerstört in die Hände bekommen, weil sie ein logistisches Sprungbrett wäre für alle Operationen Richtung Westen, aber auch Richtung Osten.

Wo im Donbass gibt es zurzeit noch größere Gefechte?

Östlich von Pokrowsk gibt es eine weitere Stadt, um die Kämpfe toben: Torezk. Aus meiner Sicht ist Torezk aber bereits zu 95 Prozent eingenommen, nur noch in den Außenbezirken wird gekämpft. Nördlich von Pokrowsk befindet sich Tschassiw Jar auch bereits zu 90 Prozent im russischen Besitz. Südlich von Pokrowsk ist Welyka Nowosilka bereits gefallen. Dort versuchen die Russen, weiter Richtung Westen vorzustoßen. Sie möchten zumindest die Grenze des Oblast Dnipropetrowsk erreichen, weil das Überschreiten dieser Grenze ein gut verwertbarer Propagandaerfolg wäre.

Wie bewerten Sie die Lage im russischen Grenzgebiet Kursk?

Es gibt im Raum Kursk eine Hauptversorgungsroute der Ukrainer, die von den Russen angegriffen wird. Die Russen haben letzte Woche mehrere Videos geteilt, die zeigen, wie sie mit drahtgesteuerten Drohnen Fahrzeuge auf dieser Route angreifen. Man sieht, wie diese Drohnen sich in die Fahrzeuge stürzen, darunter auch ein Krankenwagen. Das ist ein Hinweis darauf, dass es den Russen möglicherweise gelungen ist, vom russischen Territorium aus über die große Distanz Attacken auf diese Nachschublinien zu bewirken. Falls es russischen Truppen gelingen sollte, die Route zu unterbrechen, hätte das weitreichende Folgen. Die Ukraine hätte dann Schwierigkeiten, die Versorgung der von ihr besetzten russischen Gebiete sicherzustellen.

Konnten die Russen weitere Erfolge in Kursk verbuchen?

Den Russen ist es gelungen, in Kursk wieder Gebiete unter ihre Kontrolle zu bekommen. Die Ukraine hatte dort anfangs 1100 Quadratkilometer in Besitz genommen. Momentan halten sie noch circa 400 Quadratkilometer. Die Russen greifen vor allem die Stadt Sudscha an. Die Kämpfe haben aber im Moment nachgelassen. Ich nehme an, dass beide Seiten versuchen, sich zu konsolidieren. Das Momentum in Kursk liegt auf der russischen Seite. Russische Truppen bestimmen, wo und zu welchem Zeitpunkt welcher Angriff passiert. Die Ukraine versucht, sich in den bewaldeten Gebieten im urbanen Raum festzukrallen, um das Gelände so lange wie möglich zu halten.

Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl

Source: n-tv.de