Regierung in Frankreich: Macron opfert sein Erbe
Frankreichs Premierminister Sébastien Lecornu sprach nur 30
Minuten, doch was er ankündigte, ist weitreichend: Er kippt das Herzstück von Emmanuel Macrons achtjähriger
Präsidentschaft. Die Rentenreform wird bis Ende 2027 ausgesetzt. Bis dahin können Franzosen und Französinnen wieder mit
62 statt 64 Jahren in den Ruhestand gehen. Mehr als drei Millionen Menschen sind von dieser Entscheidung betroffen und können womöglich früher aufhören zu arbeiten.
Indem Lecornu die umstrittenste und weitreichendste Reform
Macrons bis auf Weiteres stoppt, rettet er seine Regierung und gewinnt die Sozialisten vorerst für sich. Die Schwesterpartei der deutschen SPD hat das erst am späten
Sonntagabend formierte Kabinett aus Macronisten und Konservativen in der Hand. Die rechtsnationale Partei von Marine Le Pen und die radikal Linken Insoumis hatten bereits angekündigt, die Regierung stürzen zu wollen, völlig unabhängig davon, was Lecornu anzubieten hat. Mit den Stimmen der Sozialisten hätte das für Donnerstag geplante Misstrauensvotum eine klare Mehrheit im Parlament. Aber Lecornu erfüllte alle ihre Forderungen. Schließlich hat Macrons Partei, zu der Lecornu gehört, seit der vorgezogenen Neuwahl 2024 keine eigene
Mehrheit mehr.
Für die französischen Medien ist klar, wer hier verloren hat. Die Sozialisten
hätten Macrons „Skalp“ erbeutet, während Macrons Anhänger „riesige Kröten“
schlucken müssten, heißt es in ersten Kommentaren zur Ankündigung von Lecornu. Das klingt nicht übertrieben. Die Kehrtwende der Regierung
ist so gewaltig, als hätte Gerhard Schröder die Hartz-IV-Reform zurückgenommen,
um die Grünen zu besänftigen. Oder als würde Friedrich Merz heute ein
Willkommensprogramm für Flüchtlinge starten, um die Sozialdemokraten in der
Regierung zu halten.
Der sozialistische Fraktionschef Boris Vallaud war entsprechend voll des Lobes. „Das Gefühl, niemals gehört zu werden, ist riesig in unserem Land.
Heute haben sie endlich der Mehrheit im Lande und der Opposition zugehört und
stellen erstmals die Rentenreform infrage, die viele Menschen als brutal
empfunden haben.“ Dies sei die Anerkennung langer gewerkschaftlicher Kämpfe.
Nächste Hürde: der Haushalt
Aber der Preis für Macron ist hoch. Selbst seine Anhänger sagen, die Rentenreform sei das einzige tiefgreifende Gesetz seiner
zweiten Amtszeit. 2023 hatte er sie gegen alle Widerstände und parlamentarische
Regeln durchgeboxt. Millionen Menschen gingen monatelang gegen die spätere
Rente auf die Straße. Der Verfassungsrat musste sich mit Hundertschaften vor
wütenden Bürgern schützen, als er das Gesetz für verfassungskonform erklärte.
Und nicht einmal das Parlament wurde gehört. Die damalige Premierministerin Élisabeth Borne brachte das Gesetz ohne Abstimmung durch und berief sich dazu
auf den Ausnahmeparagrafen 49.3.
Für Macron war die Reform ein wichtiges
Symbol. Er wollte zeigen, dass er grundsätzliche Dinge in Frankreich ändern
kann, in dem Land, in dem die Bürgerinnen und Bürger besonders hohe Ansprüche
an den Staat und die staatliche Versorgung stellen.
Warum Lecornu nun so weit auf die Sozialisten zugeht, liegt auf
der Hand. Sollte es zu einer Neuwahl des Parlaments kommen, wäre die rechtsnationale Marine Le Pen die
große Gewinnerin und könnte die meisten Sitze gewinnen, Macrons Abgeordnete
würden hingegen aktuellen Umfragen zufolge auf rund 50 zusammenschrumpfen und damit weniger als
ein Zehntel stellen.
Bereits zwei Premierminister von Emmanuel Macron wurden im
vergangenen Jahr gestürzt, Lecornu musste erst vor zehn Tagen zurücktreten, weil die Republikaner die gerade erst neu formierte Regierung
infrage stellten. Mit lediglich 14 Stunden war Lecornu der Premier mit der kürzesten
Amtszeit in der Geschichte Frankreichs. Wenige Tage später ernannte Macron ihn
erneut. Die weitreichenden Zugeständnisse sind seine einzige Chance, diesmal im Amt zu
bleiben.
In seiner Rede brach Lecornu ein weiteres Tabu der
Macron-Ära: Künftig sollen Superreiche mehr Steuern zahlen. Es gäbe „Anomalien“ bei der Besteuerung großer Vermögen, sagte er und wünschte sich „einen außergewöhnlichen Beitrag“ der reichsten Franzosen im nächsten Haushalt. Dabei hatte Macron stets dafür plädiert, die Steuern zu senken. Als eine seiner ersten Entscheidungen hatte er Unternehmen entlastet und die Vermögensteuer gesenkt. Auch seine vorherigen
Regierungen wollten trotz rekordhaft hoher Schulden keine Steuern erhöhen,
sondern vor allem die Ausgaben kürzen.
Die Ironie an der Situation ist nun: Die gesamte Regierung
besteht aus Anhängern der Rentenreform und niedriger Steuern. Im Kabinett
sitzen Macrons Vertraute und konservative Minister, die das Rentenalter sogar
weiter anheben wollen. Nach Jahren konservativer Politik muss Macron nun eine
politische Kehrtwende vollziehen und die größten Zugeständnisse seiner Amtszeit
machen. Lecornu hat außerdem angekündigt, auf den Sonderparagrafen 49.3 zu
verzichten. Künftig müssen wieder Mehrheiten im Parlament gefunden werden.
Unabhängig von den politischen Konflikten muss Frankreich
nun in den kommenden Wochen einen Haushalt verabschieden. Und Frankreich sitzt auf einem der größten Schuldenberge Europas – ein Berg, der mit der
abgeschafften Rentenreform noch weiter wachsen wird. In der Haushaltsdebatte
wird sich zeigen, ob die Regierung die Schulden vornehmlich mit
Steuererhöhungen in den Griff bekommen will, wie es die Sozialisten fordern, oder mit
Sparmaßnahmen. Und ob Frankreich langfristig das Programm der linken Opposition
verfolgt – und damit das Ende von Macrons Politik besiegelt.