Rammstein: Es ist zu einfach, Till Lindemann als bösartiges Monster darzustellen

Wenn es um Fragen der Macht geht, auf welcher Seite stünden Sie dann lieber? Auf der Seite der Mächtigen, oder auf jener Seite der Machtlosen? Bisweilen muss man sich solche Fragen ja stellen, so im Falle des Rammstein-Frontmannes Till Lindemann. Mehrere junge Frauen werfen dem Sänger und seiner Entourage vor, man habe sie gezielt für Treffen ausgewählt, alkoholisiert bzw. unter Drogen gesetzt und dann Lindemann für Sex zugeführt. Eine Frau, die Irin Shelby Lynn, die nach eigener Aussage gegen ihren Willen Drogen verabreicht bekam, hatte den Stein via Social Media ins Rollen gebracht.

Die Vorwürfe gegen den Sänger bzw. sein Team reichen von eindeutig justiziablen Handlungen bis hin zu moralisch jedenfalls fragwürdigen. Etwa wenn man besonders junge Frauen abfüllt, um sie – so ist anzunehmen – gefügiger zu machen. Und dann ist da immer schon der Aspekt der Macht: Wer sagt denn Nein zu einem Rockstar?

Eine Metoo-Forderung

Hier beginnen die Probleme. Glaubt den Opfern, schreibt eine Freundin auf Facebook. Das ist eine Metoo-Forderung. Wenn für mutmaßliche Täter eine Unschuldsvermutung gilt, dann muss sie ebenso für mutmaßliche Opfer gelten. Statt die (häufig) weiblichen Opfer als geld- und aufmerksamkeitsgeil darzustellen, solle man ihnen zunächst einmal glauben.

Man sieht im Falle von Shelby Lynn und anderen Frauen, die sich in der Rammstein-Causa zu Wort meldeten, wie brutal gerade die (a)sozialen Medien mit mutmaßlichen Opfern umgehen. Das zeigte sich bereits im Zuge des Verfahrens Amber Heard vs. Johnny Depp, in dem Heard online gemobbt und verhöhnt wurde.

Die Öffentlichkeit als Gericht

Sich mit den Machtlosen, den Opfern zu solidarisieren, ist ein edler Gestus, doch er hat Tücken. „Glaubt den Opfern“ eine Tautologie, denn ich muss wissen, wer Opfer ist, aber das Wissen wird durch den Glauben ersetzt. Da jedenfalls, wo kein Gericht die Vorwürfe klärt.

Dass Shelby Lynn ihre Vorwürfe auf Social Media äußerte, rückt die Öffentlichkeit in die Position der Gerichtsbarkeit. Verhandelt wird nicht nur Justiziables, sondern immer auch Moral. Bisschen unappetitlich vielleicht, dass sich ein 60-Jähriger blutjunge Frauen sucht, um mit ihnen sein Pornovideo nachzustellen. Aber wer sind wir zu urteilen? Bisschen traurig, dass der Rockstar-Mythos immer noch und immer wieder zieht. Aber was ist mit den Frauen? Damit meine ich nicht ihre Glaubhaftigkeit. Aber waren die Frauen so machtlos, wie einige sie sehen wollen?

Till Lindemanns Ballermann-Rhetorik

Wenn die Rammstein-Entourage die Frauen etwa bat, sich sexy zu kleiden und im Vorfeld Fotos und Videos machte, dann dürften die Frauen immerhin geahnt haben, dass es nicht nur um ein Meet and Greet mit ihrem Star ging. Das rechtfertigt keinen sexuellen Übergriff oder Körperverletzung in Form einer Intoxikation! Aber es ist zu einfach, Lindemann als bösartiges Monstrum darzustellen – immerhin besteht sein lyrisches Repertoire seit einigen Jahren nur mehr aus Ballermann-Bunga-Bunga-Rhetorik. Dicke Titten, Sie wissen schon. Sich mit so einem Mann auf ein Zimmer zu begeben, ist ein Spiel mit dem Feuer. Keine kleine Kerze, eher ein Riesenflammenwerfer, wie er bei Rammstein-Shows zum Einsatz kommt.

Es wäre tragisch, wenn von Jahrzehnten der sexuellen Befreiung und der Kritik an patriarchaler Sexualität nur das Bild unschuldiger weiblicher Opferschaft hängen bliebe. Gilt es nicht eher, die Ambivalenz des Spiels mit der (sexuellen) Macht auszuhalten? Oder im Zweifelsfall nein zum Spiel mit der Macht zu sagen, bevor man sich verbrennt?