Ralf Rothmanns „Theorie des Regens“: Trotzige Notizen aus 50 Jahren
Was geschieht, wenn uns irgendwann die Gedichte ausgehen? Wie viel Lyrik verträgt dieses Zeitalter überhaupt? Wer kann noch, wie Peter Handke es kann, „nur in den Zwischenräumen leben“? Allein: Müssten wir es nicht, um aus unserer Existenz eine zu machen, die poetisch zu nennen wäre?
Ralf Rothmann weiß, wie es geht. Seine Notizen aus fünfzig Jahren weisen ihn aus als einen, der nur bestehen kann, wenn er dem Leben etwas ablauscht, was permanent übertönt wird vom Getöse des Alltags. Zu seinem 70. Geburtstag im Mai erschienen seine Notizen unter dem Titel Theorie des Regens im Suhrkamp-Verlag. Es sind Momentaufnahmen, Reflexionen, Miniaturen, die von dem vielfach preisgekrönten Schriftsteller erzählen als jemandem, der ebenso zärtlich wie ungezähmt ist, genauso trotzig wie sehnsuchtsvoll.
Natürlich denkt einer, der sein Dasein als Schreibender bestreitet – zunächst von Lyrik, dann Prosa –, über das Schreiben nach. Darüber, wie er zu seiner Sprache kommt, was es bedeutet, eine Geschichte zu erzählen, wann der Fiktion zu vertrauen ist, wann sie Substanz hat und wann nicht. Und denkt nach, worüber er schreibt. „Wenn schon jemanden vor Augen oder im Sinn haben beim Schreiben, dann meine hart arbeitenden Eltern, nicht diesen Literaturklüngel.“
„Nur nachts ist die Stadt erträglich. Die Lichter verbergen alles, wovon einem tagsüber schwarz wird vor Augen (…)“
Was eigentlich wagt einer, der schreibt? Noch mal Handke: „Schreiben ist ein Tabubruch, das darf man nicht.“ Trotzdem tut Handke es. Und Rothmann auch. Die Welt will beschrieben werden, auch wenn niemand darauf wartet. Vielleicht kann man sich nur so versöhnen mit den Zumutungen der Welt. „Nur nachts ist die Stadt erträglich. Die Lichter verbergen alles, wovon einem tagsüber schwarz wird vor Augen“, notiert Rothmann, der seit 1976 in Berlin lebt. Die Flucht ist ein Trost.
Immer bereit wegzugehen von dort, wo man nicht bleiben kann. Überhaupt ist der, der schreibt, immer zuallererst einer, der viele Schritte auf sich nimmt. Es muss vorher ergangen werden, was sich später Satz an Satz reiht. Um insbesondere eine Stadt zu verstehen, braucht es die Bereitschaft, und Rothmann hat sie, zum Flaneur zu werden. Man denke an Walter Benjamin, der sich darin meisterhaft verstand. Sein Werk wäre nicht denkbar, hätte er sich nicht wesentlich auf die Rolle des Flaneurs verlegt mit der Möglichkeit, sich zu verirren und wie einer, der sich, so Benjamin, „in der Menge einkeilt“.
Wohin nur, wohin, Ralf Rothmann? Seine virtuos komponierten Ruhrgebietsromane zeigen, wo er bereits gewesen ist. Im Kohlenpott aufgewachsen, kennt er die sogenannten einfachen Leute; nach einer Maurerlehre arbeitete er mehrere Jahre auf dem Bau, später als Drucker, Krankenpfleger und Koch. Der Vater war Melker und Bergmann, die Mutter verdrehte gerne anderen Männern die Augen, ihre Kinder schlug sie oft blutig. Der Krieg hat beide schwer gezeichnet. Rothmann geht dem auf die Spur – es entsteht eine herausragende Trilogie (der Freitag 27/2015) über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit in Deutschland, die er mit Die Nacht unterm Schnee (2022) abschließt. Die Traumata, die er dabei ausgräbt, erschrecken ihn, aber er scheut sich nicht, er nähert sich ihnen sanft. Immer ist da die Sehnsucht nach einem Ort, der ohne Wunden ist, wissend, dass man damit das Unmögliche verlangt. Die Welt sei friedlicher, schreibt Rothmann, wenn es regnet: „Immer habe ich den Regen geliebt – solange ich nicht nass wurde.“ Wohin nur, wohin, Ralf Rothmann? Im September wird ihm der Thomas-Mann-Preis verliehen. Und dann? Immer weiter, immer weiter, an der Sehnsucht entlang.
Theorie des Regens Ralf Rothmann Suhrkamp 2023, 215 S., 24 €